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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

der „Grands-Mulets“, die wir heute noch beabsichtigten, weil die ruhige und klare Luft für die Zwecke meines Freundes gerade geeignet schien. Dairraz wandte ein, daß die Zeit zum Aufbruch für solch’ eine schwierige Tour schon etwas spät sei, da er noch einige Träger mit den nöthigen Kletterwerkzeugen, eisenbeschlagenen langen Stöcken, Hacken, Aexten und Beilen, sowie auch mit Proviantkörben ausrüsten müsse und wir somit vor acht Uhr Chamounix nicht verlassen würden; allein wir ließen dies nicht gelten und drängten zur Reise.

Nachdem wir uns im Hotel Royal de l’Union zu Chamounix bei einem tüchtigen Frühstück gestärkt und unsern Trägern Proviant und Wein für zwei bis drei Tage übergeben hatten, verließ unsere Expedition das dreitausendzweihundert Fuß über dem Meeresspiegel gelegene Hochthal, um „les Grands-Mulets“, die großen Mauleselfelsen, zu ersteigen, welche hoch über den Eismeeren der Gletscher, etwa dreitausend Meter über dem Meere, gigantisch aufsteigen und den tiefsten Einblick in die Eisklüfte des Montblancs, sowie die herrlichste Aussicht über die schneebedeckten, funkelnden Gebirge gewähren.

Nach vierthalbstündigem steilen Steigen erreichten wir bei den letzten der krüppelhaften Tannen den Strand des Bossonsgletschers, der gleich seine ganze Pracht und Erhabenheit vor uns ausbreitete, weil wir ihn hier in der ungeheuern Ausdehnung von seinem Ursprung beim großen Plateau bis zu seinem auf dem grünen Boden des Chamounixthales ruhenden Fuße übersehen konnten. Ein kleines, compactes Wirthshaus, das von der Frau eines Führers hier gehalten wurde, lud uns nach der anstrengenden Wanderung zur Rast, und wir nahmen daher – um unsern Proviant nicht vorzeitig anzugreifen – auf dem letzten Vorposten menschlichen Lebens und Waltens ein frugales Mahl ein. Dieser den Touristen unter dem Namen Pierre Pointue wohlbekannte Aussichtspunkt liegt einsam und rings von den Schrecken einer ungeheuern Zerstörung umgeben; rechts und links jähe Felsen; Gletscher und Firnen, soweit das Auge zwischen den Berggipfeln hinanreicht. Nach kurzer Rast ging’s bald wieder weiter hinan über Rhododendren und einzelne abgelegene Alpenplätze zu der anderthalb Stunden entfernten Pierre à l’Echelle, einem breiten Felsen, unter dem die bei den Gletscherübergängen nöthigen Leitern aufbewahrt werden. Während unsere Führer diese hinantrugen zu den gefährlichsten Uebergängen und durch Gletscherspalten erschwerten Passagen, nahm mein Begleiter das den Lesern der Gartenlaube wohlbekannte photographische Bild auf, welches die Redaction in einem trefflichen Holzschnitte (Jahrgang 1866, Seite 141) vorangeschickt hat und das besser, als jede Schilderung, den Eindruck jener ernsten, großartigen Naturscene wiedergiebt, jener Einöde über den Wolken, wo uns der Weltentod aus bleichen Gletscherkörpern entsetzlich anstarrt.

Die Mittagsstunde war bereits vorüber, als wir das schwarze Felsgestein verließen, die Steigeisen an die Füße schnallten und den Gänsemarsch über den mächtigen Gletscherstrom antraten. Dairraz ging auf der sanft geneigten Ebene voran und mied sorgfältig alle Eisspalten und gefährlichen Stellen, unter denen namentlich ein Abhang der benachbarten Aiguille du Midi durch herabstürzendes verwittertes Gestein schon das Grab manches Touristen wurde; wir Andern aber folgten unserm Führer auf dem Fuße zwischen wild durcheinanderragenden Eissäulen und Gletschertischen den Ruinen einer starren Welt entgegen, deren Eindruck von dem Punkte an, wo der Taconnygletscher sich mit dem Bossonsgletscher vereinigt, nur um so schauerlicher auf unser Gemüth wirkte, als das Terrain gefährlicher für uns wurde.

Bisher war nämlich unser Weg über die zerklüftete Eisfläche vollkommen schneefrei gewesen, und deshalb konnten wir ihn ohne alle Gefahr zurücklegen; jetzt aber hatte ein Schneesturm, der von den höher gelegenen Firnstöcken herabgeweht haben mochte, alle die blauen, hier oben bedeutend zahlreichern Gletscherspalten und Schründe mit einer trügerischen Kruste bedeckt. Unser Führer hielt es deshalb für rathsam, die „cérémonie de la corde“ anzuwenden, d. h. uns Alle an einem straffgezogenen Seile zu befestigen. Jeder mußte sich mindestens zwanzig Fuß von seinem Vordermann entfernt halten, und so ging der Gänsemarsch langsam und beschwerlich vorwärts. Nicht selten glitt einer in der Reihe aus und wäre sicher in den Abgrund hinabgerollt, wenn das von unsern Begleitern straff angezogene Seil nicht um seinen Leib geschlungen gewesen wäre.

Vorüberziehende Nebel ließen die Sonne nur in mattem, bleichem Lichte erscheinen. Tief unter uns, auf der weiten schiefen Fläche des Gletschers, wandelten zusammengeballte Nebel in gespenstischen Gestalten. Grauen durchzog uns beim Anblick dieses geisterhaften Spieles, und Dairraz, der in meiner Nähe stand, schaute besorgten Blicks hinüber und murmelte ernst: „Wehe den Engländern, wenn sie jetzt drüben auf dem gefährlichen Wege über den Dôme du Goûté oder gar auf den Bosses du Dromédaire sind, – da toben die Gletscher fürchterlich und die Lauinen der Aiguille du Midi sind wohl seit lange nicht so wild gewesen. Nun, sie haben den alten Michel bei sich, der weiß Bescheid und ist wohl der tüchtigste Führer im Gebirge; wenn der nicht helfen kann, kann’s keiner – außer Gott.“

„Aber wird das Unwetter nicht auch uns bedrohen?“ frug ich den wettergebräunten Führer.

„Keineswegs,“ antwortete dieser mit Bestimmtheit. „Es bricht sich an den steilen Wänden des Tacul und der Grands Mulets; hier herunter kommt es nicht, und ehe wir oben sind, ist es längst vorüber.“

Ein ängstliches Gefühl, über dessen Ursache sich wohl keiner Rechenschaft geben konnte, trieb uns zur Eile. Wir setzten unsern Weg weiter fort durch wüste Reviere, die außer und über der Zeit zu stehen und nur mit den Gestirnen des Himmels und mit den fliegenden Wolken zu verkehren schienen. Und dennoch bot sich der menschlichen Natur hier noch eine Heimath dar, wenn auch nur ein elendes, aus wüstem Gestein aufgethürmtes, unbewohntes Hüttchen, das Nachtasyl der müden Montblanc-Karawanen, unser heutiges Ziel.

Gegen vier Uhr Nachmittags hatten wir es erreicht, schnallten hastig die Steigeisen von den brennenden Füßen und suchten uns so häuslich einzurichten, wie es in der sehr primitiven Steinhütte gehen wollte, die man in der Touristenwelt scherzweise „Hôtel impérial des Grands-Mulets“ getauft hat. Die Neige des Tages verwendete ich aber mit meinem Freunde zur näheren Orientirung in der Eiswelt des Montblancgebirges, dessen gewaltigste Riesen: Géant, Tacul, Aiguille du Midi, Aiguille du Moine, Aiguille verte, Aiguilles droites und Jorasses, uns mit ihren blitzenden Firnen und Gletschern wie ein Kranz mit silbernen Blättern umgaben. In stiller Feier bewunderten wir die herrliche Aussicht, welche uns jenseits des gebirgigen Chablais den tiefblauen Leman und die weite französische Ebene enthüllte.

Mitternacht war herangekommen, die müden Träger waren bereits eingeschlafen, nur mein Freund wachte noch mit mir und Dairraz, der uns eifrig mit Grog bediente, als wir plötzlich in der Ferne ein schrilles Pfeifen und bald darauf einen ängstlichen Hülferuf vernahmen. Erstaunt sprangen wir auf und weckten die Träger; Dairraz aber schürte von Neuem das Feuer, welches die Führer vor unserer Hütte angezündet hatten, damit es besser in die Bergschluchten hineinleuchtete.

Bald entdeckten wir denn auch bei seinem Scheine die Gestalt eines Mannes, der mühsam und keuchend über den Gletscherstrom kam. Dairraz erkannte in ihm seinen schon vorhin erwähnten Freund, den wackern, später in der Matterhorn-Affaire vielgenannten Michael Croz, und begrüßte ihn mit einem treuherzigen „Grüß Gott, Michel! Was führt Dich so eilig bei Nacht über die gefährlichen Gletscher von Deinen Engländern herüber?“

„Die Noth allein, die äußerste Noth!“ erwiderte der Angeredete athemlos und sank erschöpft bei dem Feuer nieder. Erst ein Glas Wein, das wir ihm reichten, brachte ihn wieder zur Besinnung und er berichtete: „Es mochte wohl gegen zwei Uhr Nachmittags sein, als wir den Gipfel des Montblanc verließen. Trotz der Gesichtschleier, welche wir trugen, waren die Augen unserer Reisenden da droben fast schneeblind geworden und es erschienen die tiefern Luftschichten unter uns wie ein feiner Nebel, der Thäler und Höhen einhüllte. Das riesige Hochschneefeld, dessen sandartig schurrende Firnmasse beim Steigen uns so hinderlich war, passirten wir mittels Rutschpartie so schnell, daß wir die Strecke, welche uns aufwärts fast einen halben Tag mühseligen Steigens gekostet hatte, in wenigen Minuten zurücklegten. Nirgends brauchte ich den Schnee mit meinem Alpstabe zu sondiren, er war überall tief genug für die lustige Thalfahrt, und da die beiden Reisenden, welche uns Führern beim Hinabgleiten folgten, geübte Bergsteiger waren, so ging die Rutschpartie glücklich und ohne jeden Unfall von statten. Weiter unten an den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_138.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)