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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Sie gingen zu der Casse des Landrentmeisters, die sich in dem Regierungsgebäude befand. Das Regierungsgebäude, ein großes, stattliches Gebäude, war ein ehemaliges Norbertinerkloster und lag am Ende der Stadt; die Norbertiner waren ein reicher Orden; darum waren sie auch überall die ersten Mönche, die von den Regierungen aufgehoben wurden. Der Landrentmeister führte den Polizeibeamten in sein Cassenzimmer, zeigte ihm den festen, unverletzten Verschluß des Gewölbes, führte ihn dann in das Cassengewölbe, zeigte ihm den eben so festen und unverletzten Verschluß der Fenster und des Schrankes. Der Polizeirath besichtigte mit seinem scharfen und erfahrenen Auge Alles genau, stieg auf einer Leiter, die da stand, zu den Fenstern hinan, fand sie unverletzt, von innen verschlossen, konnte die eisernen Stangen nicht biegen und nicht rütteln.

„Von hier aus ist Niemand in den Schrank gekommen,“ sagte der Polizeirath.

„Durch die Mauer hinter dem Schranke dann, meint Ihr?“ fragte der Landrentmeister. „Seht Euch die fünf Fuß starken Mauern an.“

„Schließt den Schrank auf.“

Der Cassenbeamte schloß den Schrank auf.

„Zeigt mir die Stelle, wo das gestohlene Geld lag.“

Der Landrentmeister wies nach der leeren Ecke rechts in dem mittleren Fach.

„Und was noch vorhanden ist, lag, wie es jetzt liegt?“

„Ganz so. Ich habe nichts davon verrückt. Ich nahm nur hunderttausend Thaler in Banknoten davon.“

„Das war die schleunige Zahlung, die Ihr zu machen hattet?“

„Ja.“

„An wen?“

„Nach Hofe.“

„Teufel, die verbrauchen viel Geld. Aber was geht es mich an? Ein Beamter darf nicht räsonniren, wenn er sein Gehalt bekommt, ein Polizeibeamter am allerwenigsten; sie thun es zwar am meisten, aber andere Leute dürfen es nicht hören. Indeß, bleiben wir bei dem Geschäft.“

Er nahm eine der Goldrollen auf, die in dem Fache lagen.

„Wie viel wiegt ein solches Ding?“

„Etwa zwei Pfund.“

„Und sechzig solcher Rollen fehlen?“

„Gerade sechzig.“

„Die machen hundertundzwanzig Pfund. So viel hat ein einzelner Mann nicht forttragen können.“

„Wenigstens nicht wohl auf einmal.“

„Er hätte also mehrmals zurückkehren müssen und dazu mußte er in der Nähe wohnen oder ein Versteck haben. Bringt Euch das auf Jemanden?“

„Nein.“

„Dann vielleicht ein anderer Umstand. Das gestohlene Geld betrug sechzigtausend Thaler. Wie viel wiegen sechzigtausend Thaler Banknoten?“

„Vielleicht ein halbes Pfund.“

„Warum nahm der Dieb nicht die Banknoten, nach denen er die Hand nicht weiter auszustrecken brauchte, als nach dem Golde?“

„Die Nummern der Banknoten sind in unsern Cassenregistern verzeichnet; sie liegen hier so, wie sie von der Centralcasse eingeliefert wurden.“

„Ah, ah, das wußte also der Dieb!“

„Es scheint in der That so.“

„Untersuchen wir weiter. Der Schrank hat hinten keine besondere Wand, nur Seitenwände und diese sind in die nackte Mauer eingefugt, freilich mit starken, festen eisernen Klammern.“

„Und die Mauer hat eine Stärke von fünf Fuß,“ sagte der Cassenbeamte.

„Auch hier? Darauf kommt es an.“

„Es dürfte kaum darauf ankommen. Draußen steht Tag und Nacht eine Schildwache.“

„Bah, um bei Tage zu träumen und bei Nacht zu schlafen. Ich kenne diese Bauernburschen. Untersuchen wir daher trotz Eurer Schildwache. Zu sehen ist hier nichts mehr. Die Mauer ist fest. Die Steine sind Kolosse, wie Fundamentsteine; sie sind zusammen und ineinander gefugt, als wenn sie so für die Ewigkeit beisammen bleiben sollten. Aber fühlen wir einmal. Ihr macht ein höhnisches Gesicht, daß ich mit der Hand fühlen will, ob eine Mauer fünf Fuß dick ist?“

Der Landrentmeister antwortete nicht. Der Polizeirath klopfte mit den Knöcheln seiner Finger an die großen Steine der Mauer, an jeden einzelnen, langsam, bei jedem Klopfen auf den Klang horchend.

„Es ist nichts,“ sagte er. „Stark und fest, wie für die Ewigkeit.“

Auf einmal stutzte er.

„Ah, was war das?“

Er hatte an einen besonders großen Stein geklopft. Er schlug noch einmal daran.

„Habt Ihr etwas?“ fragte der Landrentmeister.

Diesmal antwortete der Polizeirath nicht. Er betastete den Stein auf allen Seiten, die ganze Einfassung.

„Es ist nichts,“ sagte er dann. „Fest, wie die Mauer selbst.“

Er wiederholte dennoch das Schlagen an den Stein.

„Und doch dieser Klang, als wenn da etwas hohl oder lose wäre.“

Er faßte noch einmal den Stein an, mit beiden Händen und suchte ihn zu schieben, zu rucken. Er stemmte beide Arme gegen ihn, aber der Stein rührte sich nicht.

„Helft mir!“ sagte er zu dem Cassenbeamten.

Der Landrentmeister half ihm. Sie drückten gegen den Stein, daß ihnen der Schweiß ausbrach, nicht der kalte Angstschweiß, recht heiße Perlen der Anstrengung rannen ihnen über das Gesicht. Aber der Stein rührte sich nicht.

„Wir sind ein paar Narren,“ sagte der Polizeirath. „Der Stein sitzt für Jahrtausende. Und doch der verdammte Klang! Gehen wir nach außen.“

Sie gingen nach außen. Der Landrentmeister schloß vorher Schrank, Gewölbe, Cassenzimmer sorgfältig ab. Es war noch vor drei Uhr; seine Beamten waren noch nicht wieder da.

Das stattliche Kloster, das jetzt als Regierungsgebäude diente, hatte früher außerhalb der Ringmauer vor den Thoren der Stadt gelegen. Ringmauer und Thore waren längst gefallen, denn der Umfang der Stadt hatte sich überall erweitert, jedoch in der Gegend des Klosters oder „der Regierung“, wie es jetzt genannt wurde, nicht über dessen Mauern hinaus. Das Gebäude lag mit seinem linken Flügel nach der Stadt zu. Auf seinem rechten Flügel hatte früher die Kirche gestanden, in unmittelbarem Zusammenhange mit der Klostermauer. Sie war später, nach Aufhebung des Klosters, niedergerissen und zu Geschäftsräumen für die Landesregierung umgebaut; nur die ungewöhnlich starken Mauern an ihrem Ende hatte man stehen lassen, um hier die Cassenlocale anzulegen. Das äußerste Ende, gerade da, wo früher der Hochaltar gestanden hatte, bildete jetzt das Cassengewölbe.

Dorthin hatten der Landrentmeister und der Polizeirath ihre Schritte gelenkt. Die runde Ecke der ehemaligen Kirche lag frei da, von der Stadt abgewandt. Ein leerer Rasenplatz umfaßte sie, auf dem nur ein Schilderhaus stand; er hatte eine Breite von zehn bis zwölf Fuß. An ihn schloß sich unmittelbar ein großer, fast parkähnlicher Garten an, mit Obstbäumen, Boskets, Alleen. An seinem jenseitigen Ende, in einer Entfernung von sechs bis acht Minuten, ragte über den Bäumen das hohe, spitze Dach eines dem Anscheine nach größeren Gebäudes hervor. Zu ihm gehörte der Garten. Es war in der Klosterzeit die Wohnung des Propstes gewesen und hieß daher auch noch jetzt die Propstei. Gegenwärtig war es die Amtswohnung des Präsidenten der Regierung. Der Polizeirath besichtigte Alles genau.

„Eine polizeiliche Wüste!“ sagte er dann. „Keine Lücke und keine Stütze, an der ein Auge, das einem Verbrechen nachspürt, sich erlaben könnte. Das Ding, Euer ganzes Cassengewölbe, liegt wie ein uneinnehmbarer Festungsthurm da. Die Mauern sind ihre fünf Fuß stark; man sieht es hier erst recht. Die Steine darin wie eingelöthet. Die Fenster so schmal, daß kein Schneider, und die eisernen Stäbe darin so dicht beisammen, daß keine Katze hindurch könnte. Und zum Ueberfluß ist auch noch die Schildwache da. Also, Freund Aders! Wißt Ihr sonst noch etwas?“

Der Landrentmeister wußte nichts. Auf einmal sah man die Augen des Polizeiraths so sonderbar groß werden. Sie maßen die Höhe der Mauer, die Größe der Steine, und schienen in den Erdboden dringen zu wollen.

„Alle Teufel!“ rief er.

„Was habt Ihr, Schwarz?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_619.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)