Seite:Die Gartenlaube (1866) 540.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Der Schreiber stand angstvoll, die Schrift bebte in seinen Händen und fragend blickte er auf den gewaltigen Stadtkämmerer. „Lest!“ rief Roritzer noch einmal gebieterisch und der Schreiber begann.

Es war ein langes inhaltvolles Actenstück, ein getreues Verzeichniß aller wirklichen und vermeinten Unbilden, die der Rath seit Jahren gegen die Bürgerschaft verschuldet, Kleinigkeiten neben den wichtigsten Anklagen, Dinge die sich fast lächerlich anhörten neben Inzichten der schwersten Art; das Volk hat ein treues Gedächtniß, es hatte einen empfangenen Nadelstich so wenig vergessen, wie eine Todeswunde. Da war dem Rathe vorgehalten, wie er und die edlen Geschlechter seit Langem darauf ausgegangen, alle Herrschaft an sich zu reißen und die Gemein’ in ihren Rechten zu verkürzen, wie sie darum sich an Herzog Albrecht ergeben, nur um mit Hülf’ eines Gewaltigen das Volk zu unterdrücken, und wie sie der Gemein’ die Zustimmung zu dieser Ergebung arglistig abgelockt, indem sie ihr die lateinischen Freiheitsbriefe der Stadt, welche den Bürgern unverständlich waren, falsch übersetzt und ungetreu vorgetragen, den Vermögensstand der Stadt aber fälschlich als einen trostlosen und unhaltbaren dargestellt. Da war nicht verschwiegen, daß, wenn es übel um der Stadt Säckel beschaffen, dies Niemand verschuldet, als die üble Wirthschaft des Raths und seine Saumsal, die zugegeben, daß Nürnberg den Regensburger Handel an sich gerissen, daß die Wiener die Schiffe von Regensburg angehalten und Herzog Albrecht die Getreidschranne gewaltsam nach Straubing gezogen und daß jetzt kaiserliche Majestät, der die Bürger getreu ergeben, wider der Stadt altes verbrieftes Recht ihr einen Hauptmann aufdrängen wolle. Es sei, hieß es, dem Rathe nicht Ernst, diese Zumuthung abzuwehren, auf welcher der Kaiser sicher nicht bestünde, würde ihm nur Alles in rechter Wahrheit vorgetragen; er unterhandle mit dem Kaiser nur zum Schein, und sei heimlich mit ihm einverstanden zu gemeiner Freiheit Unterdrückung. Da war endlich dem Rathe vorgerückt, daß er den Klöstern und Geistlichen nicht gewehrt, welche allerlei bürgerliches Gewerb’ und den Bier- und Weinschank betrieben zum Schaden der Bürger, daß er diesen eine Kleiderordnung eigenmächtig vorgeschrieben und das Umgeld erhöht habe, ohne die Gemein’ in Wachtversammlungen zu befragen, wie es Rechtens und Herkommens in der alten freien Reichsstadt.

Schweigend hörte die Versammlung zu, wenn auch durch manches Patriciergesicht der Unmuth zuckte, das eigene Sündenregister so anhören zu müssen, und in manchem Auge der Unwille glühte über die kühne Sprache, die das Volk zu führen gewagt; mancher grimmig verbissene Mund hätte gern die Verlesung unterbrochen, aber es war etwas in dem ruhigen Gebahren des Dommeisters, was das kecke Wort auf den Lippen ersterben ließ.

„Der Rath von Regensburg,“ begann endlich der Stadtkämmerer unbefangen in Miene und Ton, „hat nun die Beschwerden löblicher Gemein’ vernommen und darf es wohl als Beweis hervorheben, wie sehr er die Bürgerschaft in ihren Abgeordneten ehrt, daß er so vielfache wie grundlose Beschuldigung ohne Erwiderung und Vertheidigung angehört; der Rath wird diese zu rechter Zeit nachzuholen nicht unterlassen; vor Allem aber ziemt die Frage, was löbliche Gemein’ eigentlich verlange? Wie sie glaubt, daß all’ den Uebeln, so sie in Wirklichkeit als bestehend erachtet würden, soll abgeholfen werden …“

„Die Gemein’,“ erwiderte Roritzer, „bedauert, zu solch’ bitterer Auseinandersetzung gezwungen zu sein, sie tröstet sich mit dem Bewußtsein, es nicht verschuldet zu haben, und will hinwider einen Beweis geben, wie gern sie die Hand bietet und einschlägt zu Versöhnung und Frieden … Vergessen soll Alles sein, was geschehen, jede Kränkung von beiden Seiten geschlichtet und abgethan auf ewige Zeit, wenn der Rath der Gemein’ drei Dinge zugesteht und verbrieft in feierlicher, darüber aufgenommener Urkund’ …“

„Nennt die drei Dinge!“

„Zum Ersten, daß der Rath der Gemein’ die alten Freiheitsbriefe und Rechtbücher der Stadt vorlegt zu jederzeit freier Einsicht, Lesung und Abschrift; zum Andern, daß der Rath über den Stadtsäckel auf die letzten fünf Jahre zurück genaue Rechnung legt und eine Tagsatzung bestellt zur Abhör … zum Dritten, daß fortan und für ewige Zeit aus jeder der zehn Wachten, in welche die Stadt getheilt, je vier Bürger in freier Wahl erkürt werden, die im Rath sitzen und Stimme haben wie die Andern und wie die Geschlechter …“

Die Gesichter über den hohen Lehnstühlen waren noch finsterer geworden, desto heller leuchteten die der Zunftgenossen; sie flüsterten einander zu und waren vergnügt über die entschiedene Art, wie der Führer, den sie gewählt, ihre Sache vertrat.

„Wohlan denn,“ begann Lyskirchner wieder, „so wollen wir hoffen, aus sothaner heute begonnener Besprechung den erwünschten Frieden und der Stadt ersprießliche Eintracht entkeimen zu sehen … Der Rath kennt nun das Begehren löblicher Gemein’; er wird solches in gebührende Berathung ziehen und nicht ermangeln, die Resolution, so er gefasset, zu verkünden; inzwischen …“

„Mit Vergunst, Herr Stadtkämmerer,“ unterbrach ihn Roritzer erstaunt, „wozu das? Wozu noch einmal geheime gesonderte Erwägung im Rath? Hier sitzen die Vertreter der Gemein’, nicht um blos zu erwarten und ruhig anzuhören, was einem wohledeln Rath belieben mag zu beschließen: zu gemeinsamer Verhandlung und Berathung sind wir hier – die Gemeinsamkeit ist es, aus der die Eintracht kommen soll!“

„Aber der Rath muß doch erst für sich untersuchen … sich klar werden über die Verhältnisse und Anforderungen!“

„Ei, Ihr Herren, so Euch die Verhältnisse jetzt noch nicht klar geworden,“ rief Roritzer unwillig, „so dürfte das Warten lang währen, bis es geschieht! Ist es nicht schier ein Jahr, daß Rath und Gemein’ im Hader liegen miteinander? Thut Ihr doch, als hörtet Ihr heute das erste Wort davon, und könntet doch längst jede Silbe auswendig wissen und jeden Buchstaben! Ihr sinnt darauf, die Sache zu verzögern …“

„Und Ihr wollt sie überstürzen!“ rief der Fremde, der nicht mehr an sich zu halten vermochte.

„Mit Euch hab’ ich nicht zu verhandeln, Herr Doctor,“ rief Roritzer entgegen, „werd’ Euer nicht vergessen, so ich einmal einen Handel haben sollt’ am neuen Kammergericht zu Wetzlar, hier aber dank’ ich für Euren Rath!“

„Ihr würdet gut thun, Euch zu mäßigen!“

„Ich thue nichts über’s Maß, ich bin’s als Baumeister gewohnt!“

Die Bürger lächelten und nickten noch vergnügter. Der Fremde aber flüsterte Lyskirchner zu: „Ihr habt recht gesagt, das ist ein gefährlicher Mensch!“

„Noch einmal,“ begann der Dommeister wieder, „begebet Euch der Weitwendigkeit und alles Umschweifs! Sagt Eure Meinung über die Sprüche und Forderung der Genossen, wir reden hinwider und kommen so zur Verständigung …“

„Es geht nicht! Es ist wider alle Form!“

„Die Form thut’s nicht, Ihr Herren, glaubet mir das; der Sinn muß Alles thun, der in der Form steckt! Der Sinn hat sie geschaffen, und hat sie ihren Dienst gethan, so zerbricht er sie und schafft sich die neue, deren er bedarf!“

„Ihr seid sehr reich an Bild und Gleichniß,“ entgegnete Lyskirchner kalt, „Ihr vergesset nur, daß es Dinge giebt, die über Senkblei und Winkelhaken hinausgehen, und daß nicht Alles zu schlichten und glatt zu machen ist mit Kelle und Richtscheit!“

Der Dommeister sprang auf; Zorn röthete sein Angesicht, seine Hand ballte sich, seine Augen brannten, die Lippen zuckten, dem Gegner ein grimmiges Wort in’s Antlitz zu schleudern: da war es ihm, als stünde er wie gestern vor ihm am Eingang seines Hauses, als träte eine holde Gestalt wieder zwischen Beide, und schmiegte sich schützend vor den alten Mann und blickte mit den tiefen innigen Augen bittend und abwehrend auf ihn herüber.

Er bezwang sich.

„Herr Lyskirchner,“ rief er mit bebender Stimme, „es ist das zweite Mal, daß Ihr über die Sache die Person angreift und spöttisch meines Handwerks gedenkt … Ich ertrag’ es nur an diesem Ort, in dieser Stunde allein, ich ertrag’ es nur um eines Gedankens willen, den Ihr nicht ahnt; aber wagt nicht, mir wieder so zu begegnen, oder so wahr ich mich nie meines Meißels geschämt …“

Lärmen und wachsendes Stimmgebrause vom Platze her unterbrach ihn. „Was ist das?“ riefen die Rathsherren und drängten zum Fenster. „Was geschieht? Das Volk stürzt in Massen schreiend gegen das Rathhaus heran … das ist Ueberfall!“

„Unmöglich!“ rief Roritzer dazwischen mit Gebieterstimme den Lärm übertönend. „Ich habe dem Volke befohlen, zu warten!“

„Ha,“ knirschte der Fremde dem Stadtkämmerer zu, „der Uebermüthige! Er hat sich’s wohl eingelernt, den Volkstribun zu spielen!“

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 540. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_540.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)