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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

nächstfolgenden Jahren geblieben zu sein. Er weiß nur anzugeben, daß man ihn lange in einem halbdunklen Zimmer als Gefangenen gehalten und im Alter von sechszehn Jahren an Bord eines Schiffes gebracht habe, das ihn in Canada an’s Land setzte. Dort blieb er bis zum Jahre 1838 und erwarb sich durch Arbeit so viel, um an die Rückkehr nach England denken zu können. In London angelangt, begab er sich an Bord eines Kohlenschiffes, das nach Middlesborough segelte. Das Schiff scheiterte unweit der Mündung des Tees und unser Passagier verlor seine ganze Habe. Dieser Verlust und seine Rathlosigkeit machten auf sein Gemüth einen solchen Eindruck, daß er beschloß, den Rest seines Lebens in der Einsamkeit zuzubringen. Von jener Zeit bis auf den heutigen Tag hat er diesen Entschluß durchgeführt. Sein jetziges Haus „steht“ erst seit fünf Jahren. Zwei ähnliche hat die Fluth ihm über dem Haupte zusammengerissen, aber er wich nicht.

Der Leser hält ohne Zweifel Manches aus der Geschichte dieses Mannes für einen fabricirten Roman. Doch die Wirklichkeit ist, wie man in England, an Schicksalscontraste der wunderlichsten Art gewöhnt, zu sagen pflegt, oft seltsamer als die Dichtung. So auch in diesem Falle. Vor ungefähr vier Jahren ersuchte ein Londoner Gentleman, Namens Evans, den Polizeimeister der Stadt West-Hartlepool, den Aufenthalt dieses seltsamen Sonderlings ausfindig zu machen, da derselbe der Erbe ausgedehnter Herrschaften sei. Als Mr. Dixon, der Polizeibeamte, Marley aufgefunden und ihm jene erfreuliche Kunde brachte, weigerte sich dieser entschieden, sich um seine Erbschaft zu kümmern. Ein Jahr später erkrankte seine Pflegemutter und ließ ihn vor ihr Sterbelager kommen. Aus ihren Mittheilungen und in Folge von Nachforschungen Solcher, die sich für den Mann interessirten, ergab sich die Wahrheit des – Romans. Er ist in der That der rechte Erbe zu jenen Reichthümern an Gut und Land und wurde kurz nach seiner Geburt in der beschriebenen Weise bei Seite geschafft. Auch documentarische Beweise wurden ausfindig gemacht, so daß alle Zweifel an der Historie beseitigt sind.

John Marley hat bis auf diesen Tag sich geweigert, sein Einsiedlerleben mit den Schätzen dieser Welt zu vertauschen, so lange eine Lady, die sich jetzt im Besitze der Güter befindet, noch am Leben. Dann erst gedenke er seine Rechte geltend zu machen und in die Welt zurückzukehren.




Blätter und Blüthen.


Ein Tag Napoleon’s des Dritten. In einem Pariser Joumal, l’Etendard, fand ich kürzlich eine interessante Parallele zwischen den Jahren 1666 und 1866; es war darin unter Anderem recht amüsant zusammengestellt, auf welche Art damals ein Monarch seine Zeit verbrachte und wie anders dagegen die Zeiteintheilung unserer heutigen Majestäten beschaffen ist. Zu der Studie aus dem Jahre 1666 hatte Dangeau, der bekannte, so höchst gewissenhafte Historiograph Ludwig’s des Vierzehnten, als Quelle gedient; zu dem Gegenstück aus unserer Zeit war ein Tag aus dem Leben Napoleon’s des Dritten gewählt worden, und zwar ein gewöhnlicher Tag, ein Tag, an welchem der Monarch ziemlich frei über seine Zeit verfügen kann und wo er durch keine ausnahmsweisen Feierlichkeiten oder Festlichkeiten in Anspruch genommen wird. Vielleicht ist es dem Leser nicht uninteressant, einen Blick in das Privatleben des gegenwärtigen Beherrschers von Frankreich thun zu können.

Es ist sechs Uhr Morgens; nehmen wir an, daß wir den Ring des Gyges, der uns unsichtbar macht, in unserem Besitz haben, und treten wir in den großen Schloßhof der Tuilerien. Die Wachen haben uns nicht bemerkt, wir schreiten auf den großen Mittel-Pavillon, den sogenannten Pavillon de l’Horloge zu, gehen durch das Hauptportal, wenden uns links nach einer Thür, die mit einer schönen Gobelin-Stickerei verhängt ist, und befinden uns in einem geräumigen Vorzimmer. Ein riesiger Portier und eine Schaar von Lakaien, in kaiserlicher Livree, grün und roth mit Goldstickerei, sitzen auf Bänken, die sich längs der Wände hinziehen, oder ruhen, noch halb schlafend, in großmächtigen Lehnsesseln. Unser Ring kommt uns hier sehr zu statten, denn ohne seine Wunderkraft würde man uns hier unfehlbar nach unserem Begehr fragen und uns, wenn wir keinen kaiserlichen Audienzbrief vorzuzeigen hätten, sogleich wieder zurückweisen. Unser Talisman schützt uns aber, Niemand bemerkt uns und wir betreten die Gemächer, die zu unserer Rechten liegen. Der erste Saal heißt: la Salle des Huissiers. Auch diese Herren, ebenfalls in blitzenden kaiserlichen Livreen, überlassen sich noch in bequemen Lehnstühlen der behaglichsten Ruhe; wir wollen sie nicht stören und begeben uns in einen zweiten Salon, der mit schweren, rothseidenen Damasttapeten, vergoldeten Sesseln etc. meublirt ist. Hier finden wir den Adjutanten und den Kammerherrn vom Dienst; diese Herren sind beide in gewöhnlicher bürgerlicher Kleidung, da für den heutigen Tag keine besondere Hoffestlichkeit in Aussicht steht; sonst würde der Adjutant die Uniform des Truppen-Corps, zu dem er gehört, und der Kammerherr eine scharlachrothe Uniform mit Goldstickerei tragen. Aus diesem Saale gelangen wir in ein geräumiges und sehr prächtiges Gemach, das ebenfalls mit dunkelrothen Damasttapeten ausgeschlagen und allenthalben mit reichen Vergoldungen geschmückt ist; dies ist der Saal, wo der Ministerrath abgehalten wird: la Salle du Conseil. In der Mitte des Gemaches steht ein riesiger Tisch, der von einem Lehnsessel und zehn gewöhnlichen Stühlen umstellt ist; an diesem Tische präsidirt der Kaiser in der Regel allwöchentlich zwei Mal seinem Ministerrathe. Unmittelbar an diesen Saal stößt das Cabinet oder, um mich richtiger auszudrücken, das erste Cabinet des Kaisers an, denn der große Raum ist in zwei Abtheilungen getheilt, in der ersten Abtheilung empfängt der Kaiser die Personen, denen er eine Audienz verwilligt hat, und in der zweiten Abtheilung hält er sich gewöhnlich auf; hier arbeitet er, liest die Rapporte und prüft die unzähligen Actenstöße, die seiner Entscheidung harren.

Zwei Kammerdiener sind beschäftigt, die Meubeln abzustäuben und Alles in Ordnung zu setzen und zu rücken; der Monarch kann jeden Augenblick eintreten. Diese beiden Kammerdiener nebst einem ersten Huissier, einem ersten Kammerdiener und noch einem halben Dutzend alter Lakaien sind mit der persönlichen Bedienung des Kaisers ausschließlich betraut; es sind treue und erprobte Diener, die zum Theil noch im Dienste der Königin Hortense (Mutter des Kaisers) gestanden haben, die mit Leib und Seele an ihrem Herrn hängen und mit unbedingter Hingebung und großer Discretion über Alles wachen, was die Sicherheit seiner Person betrifft. Ich sage absichtlich mit Discretion, denn es ist gar nicht so leicht, den Kaiser zu bewachen, da er alle Vorsichtsmaßregeln, mit denen man ihn umgeben zu müssen glaubt, geradezu und ganz entschieden verabscheut; es gehört demnach viel Umsicht und Schlauheit dazu, um ihm dieselben zu verbergen.

Aber soeben hat es am Pavillon de l’Horloge sieben Uhr geschlagen und der Kaiser ist in sein Cabinet getreten. Die erste Person, die alltäglich beim Monarchen Zutritt hat, ist der Doctor Conneau, auch eine historische Persönlichkeit; er war einst der treue Gefährte des Gefangenen von Ham und ist nun der vertraute Freund des Kaisers geworden, er ist Titular-Leibarzt und hat außerdem die schwierige und zarte Aufgabe zu erfüllen, die Gnadengeschenke, Pensionsverwilligungen, kurz Alles das zu ordnen und möglichst zweckmäßig zu vertheilen, was von der unmittelbaren Gunst oder Großmuth des Kaisers ausgeht. Nach dem Doctor Conneau erscheinen der Cabinetschef und der Privat-Secretair des Kaisers, statten über die eingegangenen Petitionen etc. Bericht ab und empfangen die Befehle und Entschließungen des Herrschers. Nun kommt die Reihe an die Gelehrten, Schriftsteller und Künstler, die mit der Ausführung specieller Arbeiten betraut waren oder mit denen der Kaiser sich über besondere Fragen, die ihn gerade beschäftigen, zu unterhalten wünscht. Gegen zwölf Uhr endlich erscheinen die oberen Hof-Chargen und statten ein Jeder über den Dienstzweig, dem er vorgesetzt ist, ihre Berichte ab.

Punkt zwölf Uhr begiebt sich der Kaiser in die Gemächer der Kaiserin zum Frühstück, das er mit seiner Gemahlin und seinem Sohn allein einnimmt. Das Frühstück dauert in der Regel eine halbe Stunde und ist sehr einfach. Nachdem der Kaiser sich mit seinem Sohne, den er zärtlich liebt und der seinerseits auch wieder mit Begeisterung an dem Vater hängt (dies Verhältniß, das ich aus der Ferne öfters zu beobachten Gelegenheit hatte, ist wirklich rührend und erfreulich), eine Zeit lang unterhalten hat, verfügt er sich wieder in sein Cabinet und es beginnen nun die sogenannten großen Audienzen: die Minister, Marschälle, Gesandten, die Präsidenten des Senates und des Corps Legislatif, sowie alle höheren Beamten, die den Monarchen zu sprechen wünschen, erhalten Zutritt. Diese Empfänge dauern gewöhnlich bis gegen drei oder vier Uhr. Hierauf kommt die Stunde, wo der Kaiser täglich, wenn es das Wetter nur einigermaßen gestattet, ausfährt und zwar in einem einfachen, zweispännigen Wagen, den er stets selbst lenkt. Dieser grüne Phaëton des Kaisers ist den Parisern sehr wohl bekannt, sie erkennen ihn schon von Weitem und begrüßen ihn oft mit Jubel. Namentlich in den Arbeitervierteln zeigt sich stets großer Enthusiasmus, dort ist Napoleon der Dritte wirklich populär. Der Kaiser hat auch bei seinen Spazierfahrten gewöhnlich ein Ziel; er besucht die hiesigen großen Manufacturen oder die Wohlthätigkeits-Anstalten; mit besonderer Vorliebe aber besichtigt er die großen und mannigfaltigen Neu- und Umbauten, die bekanntlich jetzt in Paris im Werke sind; da steigt er aus dem Wagen, die Arbeiter, die ihn schon aus der Ferne haben kommen sehen, umringen ihn jubelnd, rufen ihm begeisterte Worte zu und der Kaiser unterhält sich mit Einzelnen unter ihnen, lobt sie, eifert sie an und es kommt häufig zu sehr ergötzlichen Scenen, die in der Regel mit dem höchsten allseitigen Enthusiasmus endigen.

Um sechs Uhr ist der Kaiser gewöhnlich in die Tuilerien zurückgekehrt und um sieben Uhr findet die Tafel statt, an welcher der Kaiser, die Kaiserin, der kaiserliche Prinz und der gesammte Dienst, Kammerherren, Adjutanten, Hofdamen etc. Theil nehmen. Der Kaiser ist sehr mäßig und einfach in seinen Ansprüchen an die culinarische Kunst, für die er wenig Verständniß und gar keine Vorliebe hat; auch in diesem Punkte unterscheidet er sich von seinen Vorgängern, den Bourbonen und den Orleans, die sehr starke Esser und große Feinschmecker waren. Es giebt in den kaiserlichen Küchen noch einen alten, dicken Küchenmeister, der schon zu der Zeit Ludwig Philipp’s dies heiße Amt bekleidete und der ganz trostlos sein soll über die Gleichgültigkeit, welche der Kaiser für die edle Kochkunst an den Tag legt. Neulich noch soll der dicke Koch in komischer Verzweiflung die Hände ringend ausgerufen haben: „Die Kochkunst geht in Frankreich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 519. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_519.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)