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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

„Verschont mich damit,“ lallte der Poet, der sich neben den Flüchtling in die Ecke drückte, fast nicht minder erschöpft und angegriffen als dieser. „Solches ist nicht meine Gepflogenheit … mein Schwert ist die Feder und das Wort …“

„Da ist mein Schnitzer, so schwach er ist, mir doch noch lieber,“ murmelte Loy und sprang an’s Thor hinter Roritzer, denn die enge Straße war nun von Pechfackeln und Kienbränden erhellt, und in dem unheimlich rothen Licht drängte mit wüstem Geschrei eine wild aussehende Schaar durcheinander: stämmige Gestalten, meist Handwerker in der Arbeitstracht ihres Gewerbes, mit Knitteln, Schwertern und Hellebarden in den Händen; ein riesig langer, hagerer Mensch mit bleichgelbem Gesicht und pechschwarzem Haar, das wild und wirr um Stirn und Nacken hing, tobte als Anführer voran und schwang eine mächtige Pike über dem Haupt.

„Hier ist er hinein!“ rief es durcheinander. „Wir haben’s deutlich gesehen. Hier muß er sein! Aus dem Wege, Herr … Verbergt den Mann nicht, den wir verfolgen … wir müssen den Schelm haben!“

(Fortsetzung folgt.)




Geflügelte Wildniß.


Wir[WS 1] haben in letzter Nummer geschildert, wie die Thiere, denen die Natur die Schwingen zum Fluge in wärmere Länder versagt hat, sich bei uns in Europa durch einen todtenähnlichen Schlaf gegen die Kälte des Winters schützen; lassen Sie uns jetzt einmal einen Blick in die geflügelte Welt werfen, aus der ein namhafter Theil weite Winterreisen nach glücklicheren Klimaten macht.

Die Zugvögel, welche uns bei ihrer Ankunft den Frühling verkündigen und uns bei herannahendem Winter verlassen, haben für uns manchen romantischen Reiz, da sie als unsere Freunde zugleich auch Fremde sind und unsere Phantasie in weite Ferne tragen. Sie gehören im Sommer zum Theil zu unseren Hausthieren, sind und bleiben aber zugleich Halbwilde, Nomaden unter den Vögeln. Die eigentlichen Wilden der geflügelten Thierwelt halten sich auch während ihres Aufenthalts in Europa ziemlich versteckt und verborgen, so daß wir wenig von ihnen sehen und hören. Und sie gerade gehören zu den interessantesten Mitgliedern der ganzen Naturgeschichte. Ihre Heimath umfaßt die ganze Halbkugel von den Polarmeeren bis zum Aequator. Alle Berge und Höhen, die Tiefe der Wälder, die Ufer von Flüssen und Seen, unzugängliche Inseln und Sümpfe bilden jedes Jahr auf Hunderttausenden von Quadratmeilen Sommer- und Winterwohnungen für viele Millionen dieser geflügelten Wilden. Mitten im Sommer findet man sie in ungeheuren Schwärmen und Colonien im äußersten Norden Sibiriens, wo sie auf den riesigen Seen Jagd und Fischerei treiben. Dies gilt besonders von den wilden Schwänen und Gänsen, welche in ihren Zügen nordwärts oft die Luft verdunkeln und die Stille der Wildniß durch ihr lautes Geschrei unterbrechen. Die wilden, spärlichen menschlichen Bewohner jauchzen ihnen freudig entgegen, wenn sie in keilförmigen Wolkengebilden am blauen Himmel dahinsegeln und Aussicht auf fette Schmausereien gewähren. Es ist kaum möglich, sich einen schönern Anblick zu denken, als einen solchen Massenzug wilder Schwäne unter dem sommerlichen Himmel. Sie glänzen so blendend weiß oben am blauen Himmel, wie ungeheure Schneeflocken, die vom Sturme gepeitscht werden, und das Licht bricht sich an ihren weißen Brustledern zu einem rosigen Erröthen, das mit ihnen wie ein freudiges Zittern durch den Aether zieht.

Das Reisegebiet der wilden Gänse und Schwäne erstreckt sich vom äußersten Norden Sibiriens bis zum kaspischen Meere, dem Aral-See und bis über die Ebenen Kleinasiens. Hier findet man sie während des Winters in ungeheuren Schaaren auf unzähligen Sümpfen und kleinen Seen, häufig in nächster Nähe turkomanischer Lagerzelte, wo sie nicht selten ganz nahe zu den Menschen heranwatscheln und von erschreckten Kindern Gastfreundschaft und Theile ihres Frühstücks ertrotzen. Wir in Deutschland bekommen sie nicht so oft zu sehen, öfter auf ihren Zügen durch die Lüfte gelegentlich zu hören. Wir müssen uns in der Regel mit Schnepfen, Rohrhähnen, Krick- und sonstigen wilden Enten begnügen, die ungefähr dieselben Züge machen, wie die wilden Schwäne Asiens.

Hoch oben in den Nil-Thälern sind die menschenleeren Gegenden jedes Jahr eine Zeit lang von ähnlichen wilden Zug- und Wasservögeln dicht bevölkert. Der Nil ist hier noch kein regelmäßiger Fluß, sondern ein Labyrinth von Sumpf und Wasser, von Schilfwäldern und Wasserpflanzen, durch welche sich die ausgebreiteten Wassermassen nur sehr langsam bewegen können. Ueberall aufgehalten, bilden sie unzählige kleine Inseln und Anschoppungen. Dies ist das wahre Paradies der wilden Zugvögel. Hier steht der langbeinige Flamingo tief im Wasser; er glänzt wie ein Stück Regenbogen mit seinem brillanten Gefieder und befriedigt ungestört von Menschen seinen fast immer regen Appetit auf Fische. Die Menschen halten ihn nicht für ein Thier, sondern für einen großen und stolzen Sultan Indiens, der zur Strafe für seine Eitelkeit auf Tausende von Jahren in einen Vogel verwandelt worden sei. Um ihn herum, mitten in einer üppigen Wasser- und Sumpfvegetation, schwärmt es und leuchtet es von Schaaren wilder Enten, Reiher, Störche, Pelikane, wilder Gänse, weißer Reisvögel, schwarzer Ibis und vieler anderer Arten wilden Geflügels, für welche wir keine Namen haben. Hier brüten sie zu Tausenden und hier kriechen die Nachkommen jedes Jahr aus zu Hunderttausenden. Wer sich hier in einem Boote zwischen den Wasserschlinggewächsen hindurchzuwinden weiß, wird oft überrascht von dem Anblick unzähliger weißer und blauer Flecke, als welche die Eier zwischen den Wurzeln und Pflanzen hervorschimmern. Einige Wochen später wimmelt es weit umher von Jungen aller Art in allen möglichen Schattirungen und schrillt die Gegend umher in fürchterlichem Kriegsgeschrei, womit die Alten ihre Kinder gegen die Angriffe der Raubvögel zu vertheidigen suchen.

Auf der Spitze irgend eines benachbarten Felsens oder auf den erhabenen Zweigen einer Dompalme oder afrikanischen Sycomore sieht man den weißen Adler gierig harren oder wie ein Pfeil hinabschießen zwischen die geflügelten Schaaren oder mit vollem Schnabel und bluttriefend nach seinem fernen Neste eilen. Dieser furchtbare einsame Räuber mit seinen durchdringenden Augen bildet einen schlagenden Contrast zu dem schwarzen Wasserraben oder Fischreiher des Caps, der Einsamkeit ebenso haßt, wie sie die afrikanischen Adler lieben. Schaarenweise sitzen sie mit Tauchern und Pinguinen auf irgend einer Klippe zusammen und schnattern durcheinander, als hätten sie das Schicksal Afrika’s zu entscheiden. Der Wasserrabe ist schwerfällig und ungeschickt und nimmt sich nie die Mühe, ein Nest zu bauen, sondern legt seine Eier in die erste beste Felsenhöhlung. Sind die Jungen ausgebrütet, so haben die Alten unablässig zu thun, um die sprüchwörtlich gewordene Vielgefräßigkeit ihres Geschlechts nur einigermaßen zu befriedigen. Obgleich die Jungen von beiden Eltern eifrig und massenhaft gefüttert werden, sitzen sie doch fast immer da mit offenen Schnäbeln, gierigen Augen und langgestreckten Hälsen, flappen ihre Flügelstumpfe und schreien: mehr, mehr. Diese Wasserraben bilden eine Art von politischer Gesellschaft und halten auf Land und Meer zusammen. Wie sie ihre Eier zusammenlegen und ihre Jungen gemeinschaftlich bewachen, so gehen sie auch in Gesellschaft auf Beute aus. Von den Höhlen und Spitzen der Klippen senken sie sich in schwarzen Schaaren nach dem Wasser herab und kauern hier still zwischen den hervorragenden Hörnern der Felsen; dann brechen sie in einer Reihe hintereinander mit einem alten, erfahrenen Führer an der Spitze nach dem Meere auf. Sowie der schwarze Rottenführer eine Gesellschaft von Fischen bemerkt, giebt er ein Zeichen und stürzt sich mit dem Kopfe zuerst gierig in das Wasser; die andern folgen sofort und kommen bald wieder aus der glänzenden Oberfläche zum Vorschein, jeder mit einem schimmernden, zappelnden Fische im Schnabel. –

Besonders interessant und reich mit Sagen umwoben sind die eigentlichen oceanischen Vögel. Reisende, welche den indischen Ocean durchkreuzen, unterhalten sich oft wochenlang damit, die Fluge und Züge der Sturm-Möven zu beobachten. Hier zwischen der Unendlichkeit von Himmel und Wasser scheinen sich diese Meister der Luft und des Meeres im vollen Genusse ihrer doppelten Meisterschaft und Freiheit des unbegrenzten Lebens zu freuen; sie spalten

Anmerkungen (Wikisource)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 510. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_510.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)