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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

kein Stein auf dem anderen heilig blieb, obgleich auf demselben Grund und Boden einst der fromme Gesang der Mönche im Kloster Weißenborn ertönte. Der wunderliche Wechsel der Zeit hat aus diesem Kloster ein großes Wirths- und Brauhaus gemacht, dem der Erbauer und jetzige Besitzer den Namen des ehemaligen Gasthofes dort auf einer kleinen, felsigen Grundlage gegeben hat, dessen Stelle vor Alters eine Capelle oder ein Heiligenbild von Stein eingenommen haben muß.

Man sieht aus alledem, nicht blos die Natur, sondern auch die Geschichte dieser Gegend bietet Romantik genug, so daß Jedem, der sich hier zur Erholung aufhalten will, sein Theil daran zufällt, wenn er Augen und Sinn dafür hat. Gewiß kann es kaum einen geeignesteren Platz für Stärkung Suchende geben, als diesen nicht blos reizenden, sondern auch durch seine Berge nach allen Richtungen vor rauhen Winden geschützten Thalgrund; überall ist die Luft durch die Nähe der Wälder erfrischt, dabei weich und mild. Schwachbrüstige oder des Bergsteigens ungewohnte Leute finden hier ebene Spaziergänge durch die Wiesen des lieblichen Seebachthals oder der Ruhl oder am Saum der Berge hin. Das Louisenbad namentlich bietet in seinen weiten Gartenanlagen außer der bequemen Einrichtung für Wasserbäder der verschiedensten Art mit und ohne Zusätze von Mineralwässern oder Kiefernadeldecoct Befriedigung aller irgend billigen Anforderungen. Zwei geschickte Aerzte zu Ruhla sind ohne großen Zeitverlust für besondere Fälle zu consultiren; eine ziemlich reiche Volksbibliothek in der Pfarrei könnte sogar an Regentagen Unterhaltung gewähren, und die Correspondenz mit der Heimath ist durch eine Postexpedition im Ort so gut wie in einem größeren Badeort erleichtert. Und so wird das wunderliebliche Thal in nicht ferner Zukunft seiner altberühmten Nachbarschaft sicher an Besuch und Namen nicht nachstehen.




Bilder aus den russischen Ostseeländern.
1. Eine Bärenjagd in Livland.


Nicht weit von dem kleinen livländischen Landstädtchen W. liegt hart an der russischen Grenze das große Rittergut Neukirchen. Ungeheure Moosmoräste und zusammenhängende, dichte Waldungen bedecken noch den größten Theil des etwa einhundert Quadratwerst umfassenden Gutsareals. Stundenlang kann man wandern, ohne einem menschlichen Wesen zu begegnen, und nur nach langen Zwischenräumen stößt man hie und da auf ein abgelegenes Gehöfte, welches einsam und verlassen mitten in den riesigen Morästen und Haiden liegt, wie eine Insel im Meere. Die Civilisation hat hier ein Ende und erst in jüngster Zeit hat man die ersten schüchternen Versuche gemacht, diesen öden und unfruchtbaren Strich Landes der Cultur zu gewinnen. Noch hat es aber damit gute Weile und bei der Unsicherheit unserer einheimischen Verhältnisse, sowie bei der düsteren und ungewissen Zukunft, welcher unsere baltischen Lande gegenwärtig unter dem Andringen gewisser russischer Parteien entgegengehen, kann mancher Scheitel grau werden, bis das Dampfroß durch Neukirchens jungfräuliche Fluren braust und günstigere Conjuncturen die Unternehmungslust tüchtiger Landwirthe herausfordern. So lange jedoch noch trügerische Moosdecken die ausgedehnten Moore des Gutes bedecken, so lange noch der struppige Wachholder und das duftige Haidekraut in ungestörter Fülle auf den sandigen Haiden gedeihen und in die düsteren, sumpfigen Wälder sich nur der Fuß des einsamen Holzfällers verirrt, – so lange ist Neukirchen das Eldorado jedes Jägers, der sein Augenmerk auf höheres Wild richtet. Auf den mit unzähligen Beeren bewachsenen Morästen und Heuschlägen führen Birkhennen, Morasthühner und Auerhennen ihre jugendliche Nachkommenschaft spazieren; Lampes zahlreiche Sippe verduselt ihre Tage am Feldrande; in dichten Föhrendickichten erzieht das Haselhuhn seine zierliche Brut und im sumpfigen, finsteren Forste ergeht sich die stolze Gestalt des Elenthieres, äßt das zarte Reh, schleicht des Wolfes und des Luchses leiser Tritt durch die Büsche und hie und da läßt sich auch Meister Petz herab, die Welt oder vielmehr einen abgelegenen Hof mit seiner holden Gegenwart zu beglücken.

In eine solche einsame, von allen Seiten mit düsteren Fichtenwäldern umgebene menschliche Behausung wollen wir heute den freundlichen Leser führen. Das nächste Gehöft, der nächste wirklich fahrbare Weg sind etwa sieben Werst von derselben entfernt und nur ein schmaler, fast nicht zu passirender Holzweg deutet uns an, daß die kleine Buschwächter- oder Försterwohnung auch von Leuten bewohnt wird, die zuweilen das Bedürfniß fühlen, mit ihren Mitmenschen in näheren Verkehr zu treten. Das langgestreckte, mit einer dichten, grünlichen Moosschicht überzogene Dach des Wohngebäudes droht in der Mitte zusammenzustürzen. Die altersgrauen Wände sind roh aus unbehauenen Fichtenstämmen gezimmert und an der linken Seite des Gebäudes macht sich eine nicht unbedeutende Böschung nach außen bemerkbar, welche von zwei hölzernen Pfosten nur nothdürftig in ihren ursprünglichen Grenzen zurückgehalten wird. Links von dem Wohnhause liegt eine kleine, verfallene Scheune, rechts ein elender Kuhstall, dem sich eine in die Erde gegrabene und oben mit Rasen bedeckte, schwarzgeräucherte Badestube anschließt, welche zugleich als Küche dient. In der Mitte dieser Gebäude befindet sich der Hofraum, der zu allen Jahreszeiten mit Ausnahme etwa eines sehr trockenen Sommers oder eines sehr strengen Winters mit unergründlichem Schmutze bedeckt ist. Weiterhin, nach dem Walde zu, liegen die kleinen, gewöhnlich nur nachlässig bearbeiteten und daher auch nur einen sehr geringen Ertrag liefernden Felder. Das Ganze macht den Eindruck trostloser Oede, Armuth und Einsamkeit.

In dieser Buschwächterei, und zwar in der dunkeln und schmutzigen Rauchstube des Wohngebäudes, saßen an einem Decemberabend drei Dorpat’sche Studenten, welche, wie die an der Wand an hölzernen Pflöcken hängenden Gewehre und Pulverhörner lehrten, ein Jagdausflug und insbesondere die Begierde, einen Bären zu schießen, in diesen abgelegenen Erdenwinkel geführt hatte. Zu ihrer Zahl gehörte auch meine Wenigkeit. Wir hatten ein paar niedrige, schwarzgeräucherte Schemel an den roh aus Lehm gemauerten Heerd geschoben, in welchem einige rothglühende Holzscheite eine gemüthliche Wärme ausstrahlten. Der Rauch zog über unsern Häuptern in dichten Wolken durch die nur halb angelehnte Thür in’s Freie und wir fühlten uns trotzdem so behaglich, wie man es nach einer bei fünfzehn Grad Kälte zurückgelegten Fahrt, bei einem heißen Glase Punsch und einer guten Cigarre nur irgend sein kann. Der Buschwächter, ein kräftiger Esthe, dem die blonden Haare wirr über das Gesicht hinabhingen, stand vor uns und ich bemühte mich, ihn über seinen Wildstand auszuforschen.

„Höre ‘mal, Tönnis,“ redete ich ihn zu guter Letzt in esthnischer Sprache an, „haben sich in jüngster Zeit Bären hier gezeigt?“

„Nein,“ entgegnete er, „im Walde werden aber wohl einige sein.“

„So? Bären sind also vorhanden; dann wirst Du uns wohl auch sagen können, wo sich eine dieser Bestien aufhält?“

Tönnis kraute sich verlegen den dicken Kopf und erwiderte: „Gott weiß, in welche Schlupfwinkel diese Teufel sich jetzt zurückgezogen haben.“

Ich zog ruhig mein Taschenbuch hervor, entnahm demselben einen Fünfrubelschein, zeigte ihn unserm Wirthe und sagte: „Siehst Du, alter Freund, dieser blaue Schein gehört Dir, wenn Du uns zum Lager eines Bären führst.“

„Gott bewahre mich vor der Sünde!“ rief Tönnis entsetzt aus. „Wollen denn die Herren bei lebendigem Leibe gefressen werden?“

„Im Gegentheil,“ replicirte ich. „Wir haben vielmehr die Absicht, den Bären zu verzehren. Deine Sache ist es blos, uns zu zeigen, wo sich derselbe aufhält.“

Bei diesen Worten drehte ich den schönen, neuen Cassenschein verlockend im Glanze des Feuers hin und her und wartete geduldig auf eine Antwort. Tönnis guckte längere Zeit hindurch nachdenklich in’s Feuer, drehte dabei seine schwieligen Finger in den Gelenken, daß sie knackten, und schien ernstlich mit einem großen Entschlusse zu kämpfen. Endlich sagte er wie beiläufig: „Vorgestern haben die Holzhauer des Hofes im benachbarten Petri-Reviere einen ungeheuren Bären aus dem Lager gescheucht.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 414. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_414.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)