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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

eines quergetheilten Schildes spitz zulaufend, der übervolle Busen durch ein um den Rand des Ausschnitts lose hängendes Tuch eingefaßt, von der Taille herabwallend das faltige Kleid von schwerem Stoff, nicht mehr aufgebauscht durch den unlängst verbannten Reifrock, der in unsern Tagen um so schreckenerregender zurückgekehrt ist, in halber Kniehöhe das Kleid mit prächtigen in Schleifen aufgenommenen Festons besetzt – lachen unsere Leserinnen über die Modedame von 1792? Diese, wenn sie nur leiblichen Augen noch einmal in einen Salon von 1866 blicken könnte, würde gewiß auch ihre Heiterkeit an den heutigen Moden haben, und gar erst, wie wird eine Zukunftsdame von 1966 über die eleganteste Tonangeberin von heute lachen!

„Hier ist doch noch ein Blatt durchgewischt,“ sagte Frau Hartinger, indem sie eine Zeitung auf den Tisch legte.

„Die Mainzer? Nun, wie steht’s?“ rief der Rathsherr. „Wehren sie sich tapfer?“

„Das habe ich nicht gelesen,“ erwiderte sie, „was gehen mich die Händel an! Ich lese nur die andern Geschichten. Die Zeitung läuft Dir nicht fort,“ sagte sie, als er danach griff. „Ich wollte mit Dir noch ein vernünftiges Wort reden. Die Male sagt mir, daß Hermann tutti weg in Dorche ist –“

Der Vater erschrak sichtlich, doch faßte er sich schnell und sagte: „Kinderei! Daß sie einander lieb haben, ist ganz in der Ordnung, so nahe Blutsverwandte.“ Er hustete anhaltend, dann sagte er: „Wenn das Dein vernünftiges Wort ist, mag ich kein unvernünftiges von Dir hören. Tutti weg von Frankfurt ist Hermann jetzt, vielleicht auf immer, der arme Junge! … Der Male werde ich den schwatzhaften Mund stopfen. Wo gehst Du hin, so geputzt?“

„Zur Frau Bürgermeisterin Schweitzer! A propos, weißt Du, was sie mir neulich gesagt hat? Wenn Mainz verloren geht, bist Du schuld daran.“

„Ich?“ rief Hartinger mit dem höchsten Erstaunen und brach in ein schallendes Gelächter aus.

„Du lachst immer über mich,“ erwiderte die Frau Senatorin empfindlich, „diesmal aber werden die Leute mit Fingern auf Dich zeigen, und lachen, aber in’s Fäustchen, wird sich der Franzos. Hast Du etwa Kanonen nach Mainz geschickt? Rund abgeschlagen hast Du sie.“

„Gutes Trautche, Kanonen?“ rief Hartinger, stärker lachend. „Habe ich Kanonen in meinen Speichern? Oder braucht die Reichsfestung, deren Arsenale mit Festungsgeschütz aller Art gespickt sind, etwa Kanonen? Du hast die Frau Bürgermeisterin offenbar falsch verstanden. Es sind nicht Kanonen, sondern nur Kanoniere gewesen, um welche die Stadt Frankfurt angegangen worden ist, drüben fehlte es an Bedienungsmannschaft für das zahlreiche schwere Geschütz. Wenn ich auf dem Römer mein Votum dahin abgegeben habe, daß es für Frankfurt besser sei, den Antrag abzulehnen, und der Rath zu derselben Ueberzeugung gekommen ist, so kann ich mir das nur zum Verdienst anrechnen. Wer einmal neutral ist, muß sich auch gewissenhaft neutral halten, sonst hat er es sich selbst zuzuschreiben, wenn er feindlich behandelt wird, wie Worms, Speier und jetzt Mainz.“

„Warum nennen sie denn auf der Gasse den französischen General, der doch Custine heißt, Custinus?“ fragte die Gattin, nach ihrer Weise abspringend von einem Gegenstande, der Nachdenken forderte.

„Custinus? Ich habe das noch nicht gehört,“ erwiderte Hartinger, „irgend ein Schulmeisterwitz vielleicht? Custos, der Hüter, das paßt aber nicht. Wo hast Du das gehört?“

„Von Dorche; ein Handwerksbursch, dem sie ein paar Kreuzer geschenkt, hat ihn so genannt; den armen Schlucker haben die Franzosen hängen wollen –“

„Ha!“ rief der Rathsherr aufmerksam werdend. „Als Spion, nicht wahr?“

„Als Spion, ja. Der Custinus hat ihn aber begnadigt.“

„Unser Freund Stamm war bei Dir,“ sagte Hartinger, welcher sich daran erinnerte, was ihm der Elsasser zur Pflicht gemacht. „Wie gefällt er Dir bei näherer Bekanntschaft? Was hältst Du von ihm?“

„Er ist ein Kraftgenie,“ antwortete sie, mit dem Bewußtsein eines schönen Ausspruchs.

Ganz erstaunt blickte der Rathsherr sie an. Sie mußte sich mit einer fremden Feder geschmückt haben. „Was verstehst Du darunter?“ fragte er.

„Nun, Du wirst doch wissen, was ein Kraftgenie ist,“ entgegnete sie. „Kraft – das versteht sich doch von selber. Ist denn Stamm wirklich mainzischer Officier?“

„Wer sagt das?“ fuhr Hartinger auf.

„Die Günderode wollte es wissen, sie hat ihn in Mainz in der weißen Uniform gesehen und sich gewundert, daß er ihr hier als Stutzer begegnet ist. Wie sein Name genannt wurde, wollten ihn noch mehrere kennen, und ließen kein gutes Haar an ihm. Er hat noch keinen Bart und soll schon seine Eltern durch seine liederlichen Streiche unter die Erde gebracht haben. Ich wollte mir natürlich nicht den Mund seinetwegen verbrennen.“

„Du hast doch heut von diesen Verleumdungen nichts gegen ihn geäußert?“ fragte Hartinger heftig.

„Nicht ein Wort. Ich habe ihn nur gefragt, ob er nicht mainzischer Officier wäre und ob er so viel lustige Streiche begangen hätte, wie hier von ihm erzählt würden –“

Der Rathsherr schlug die Hände zusammen. „Was sagte er darauf?“ rief er ganz außer sich.

„Nichts. Es machte ihm Spaß; mainzischer Officier wäre er nicht, sagte er, das müßte ein anderer Stamm sein, lustige Streiche habe er als Student in Straßburg wohl gemacht; dann wollte er wissen, wer ihm die Ehre erzeige, von ihm zu sprechen, und ließ nicht locker, bis er’s mir abgeschwatzt hatte. Denn schwatzen kann er, wie ein Pariser.“

„Liebe Gertrud,“ sagte Hartinger, „Du verstehst diese Kunst auch und wirst uns noch die größten Ungelegenheiten dadurch zuziehen. Herr Stamm ist wohl in eurem Bleumourantkränzchen ein Kraftgenie genannt worden? Diese Bezeichnung, laß Dir sagen, paßt auf diesen hochbegabten, geistreichen jungen Mann in keiner Weise, denn sie gilt für einen Menschen, der durch auffallendes Wesen etwas aus sich machen will, ohne dazu befähigt zu sein. Wenn es Dir möglich ist, Trautche,“ setzte er bittend hinzu, „so sprich bei Deiner heutigen Visite gar nicht von ihm, überhaupt von nichts, das unser Haus betrifft, besonders nicht von Hermann’s Anwesenheit.“

„O, das wissen sie schon! Warum sollte ich davon nicht reden?“ erwiderte die Gattin, sich zum Gehen anschickend. „Die Schweitzer sagte mir viel zu Hermann’s Lobe und die Frau Syndicus Seeger äußerte, es wäre hübsch von ihm gewesen, wenn er noch ein paar Tausend Cameraden mitgebracht hätte: Frankfurt würde sie vielleicht bald. brauchen können. Adieu, mon cher. Ueberlege Dir’s, was nur die Male gesagt hat; die Alte schilt und sagt, daraus könne nichts werden, ich sehe das aber gar nicht ein und wüßte nicht, wem ich Dorche lieber gäbe.“

Ohne die Erwiderung auf dies offene Geständniß abzuwarten, verließ sie ihren Gemahl, der in mächtiger Aufregung in seinen Sessel sank und den Kopf, zu welchem das Blut heiß aufgestiegen war, in beide Hände stützte. Da wurde er durch einen Rathsboten aus seinen quälenden Gedanken aufgestört. Der Bote brachte ihm ein Circular, durch welches der Rath zu einer außerordentlichen Sitzung nach dem Römer beschieden wurde.


3.

Am frühen Morgen des folgenden Tages entstand in Frankfurt eine unruhige Bewegung auf den Straßen, die sich immer mehr mit Menschen füllten. Das Volk drängte sich besonders nach dem Platze, welcher der Römerberg heißt; hier steht das Rathhaus, der sogenannte Römer, in welchem sich über den Gewölben der alterthümlichen Vorderfront der Kaisersaal und das Conferenzzimmer zur Kaiserwahl befindet, während die modern gebaute Rückseite eine Reihe von Zimmern für Stadtämter, für die Ständesitzungen des oberrheinischen Kreises, die Kreisdictatur und andere enthielt. Kopf an Kopf stand das Volk vor dem Römer, in welchem der Rath schon seit Tagesanbruch versammelt war, um die Maßregeln, die gestern nur für einen immerhin möglichen Fall erwogen worden waren, heute nach vollendeter Thatsache zu beschließen.

Mainz war in den Händen der Franzosen! Das Bollwerk Deutschlands am Rhein, die starke Festung, armirt mit einhundert dreiundneunzig Geschützen vom schwersten Kaliber, hatte sich einer schwachen französischen Armee von fünfzehntausend Mann, die gar

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_338.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)