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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Heute Abend sollte eine Vorstellung stattfinden, heute Abend zum letzten Male trat unser Freund auf. Das schlaffe Seil, auf dem er seine Schwingübungen producirte, war schadhaft gefunden und abgenommen worden; ein neues Seil, sorgfältig geprüft, lag bereit, um vor der Vorstellung aufgezogen zu werden. Julie hielt sich, wie später ermittelt wurde, zu einer Zeit, wo Niemand sonst im Circus war, darin auf; ein Mitglied der Truppe sah sie herauskommen. Sie zeigte später eine fieberhafte Unruhe. Der Director der Gesellschaft, den ich einige Zeit nachher einmal sprach, erzählte mir, sie sei bei ihrem eigenen Auftreten so zerstreut gewesen, daß er gefürchtet habe, sie werde ein Unglück nehmen, und daß sie, als unser Freund sich anschickte, das Seil zu besteigen, in der höchsten Spannung nach ihm geblickt und die Hand des Directors ergriffen habe: ihre Hand war eiskalt und zitterte, so daß er sich solche Angst nicht erklären konnte.

Das Seil hing mit der tiefsten Stelle zwanzig Fuß über dem Boden des Podestes; Turn begann sich auf und ab zu schwingen, jetzt machte er ein Kunststück, welches darin bestand, daß er bei einer Schwingung das Seil losließ und ein herunterhängendes Tau ergriff, an diesem allmählich hin und her schwingend sich nach einem andern hin bewegte und wieder dieses und so mehrere ergriff, zuletzt an einem der Taue nach dem obersten Träger emporkletterte und sich von da auf das schlaffe Tau herabstürzte, dasselbe im Fallen erfaßte und mit einem Umschwunge auf den Boden glitt. Natürlich mußte dabei die Wucht seines Falles besonders schwer auf das Tau drücken.

Er machte sein Manöver ganz geschickt und schon brach das Publicum in lauten Beifall aus, als er das Tau erfaßte. Da – riß dasselbe, Turn stürzte und schlug mit der furchtbaren Gewalt, die durch seinen Sturz auf das Seil hervorgerufen war, auf den Boden; sofort quoll das Blut aus seinem Munde hervor.

Der Beifall verstummte und verwandelte sich in ein Beben der Angst und einen Schrei des Entsetzens, aber alle Stimmen übertönte das herzzerreißende Kreischen, mit welchem Julie auf ihren am Boden stöhnenden und wimmernden und sich hin und her wälzenden Geliebten stürzte. Sie umarmte ihn vor den Augen der Zuschauer mit der Inbrunst der Verzweiflung, hob seinen Kopf auf ihre Kniee und wischte mit dem Shawl, den sie beim Reiten getragen, das beständig quellende Blut von seinen Lippen. Er lebte nur wenige Augenblicke. Zuletzt sah man ihn noch mit gewaltiger Anstrengung sich emporheben und seiner Freundin Hals umfassen; vielleicht wollte er ihr den Verrath abbitten, den er im Sinne gehabt hatte. Sie küßte ihn, aber die Anstrengung beförderte sein Ende; ein neuer Blutstrom brach hervor, sein Kopf sank zurück. Er war todt.

Die Hände ringend und zum Himmel hebend, dann das Gesicht darin verbergend, floh Julie aus dem Circus. In der Nacht fand man vor dem Thore der Stadt eine Wahnsinnige; das Irrenhaus nahm sie auf und beherbergte sie bis voriges Jahr, wo sie starb.

Wie eine Untersuchung ergab, war das Tau an der Stelle des Risses mit einem feinen Messer so zerschnitten worden, daß man äußerlich fast nichts bemerkte.




Vier Monate unter den Briganten.[1]


Im Frühjahr 1865 wurden Salerno und Umgebung, welche bis dahin nichts von den im Neapolitanischen ihr Unwesen treibenden Briganten zu leiden hatten, jählings aus ihrem Frieden aufgeschreckt durch das Erscheinen einer Brigantenbande, welche auf ein Mal in die sichere Gegend einbrach und am hellen Tage das etwa eine Stunde von Salerno gelegene Aguamena überfiel. Man denke sich das peinliche Gefühl der Unsicherheit und die Bestürzung der Bevölkerung, wenn es möglich war, daß Brigantenbanden es wagten, in der Nähe einer Stadt von dreiundzwanzigtausend Einwohnern und einer starken Garnison ein Dorf am hellen Tage zu überfallen! Noch höher stieg die Angst, als auf einmal die Kunde von einem geheimnißvollen Morde an einem Taubstummen laut wurde, begangen in unmittelbarer Nähe der Fabrikgebäude eines in der Nähe ansässigen Schweizer Hauses, der Herren Schläpfer, Wenner und Compagnie, und der Wohnungen der Fabrikbesitzer.

Aus dem später über diesen Mord geführten Proceß ergab sich, daß der Brigantenhauptmann Cicho Ciancio den Taubstummen ermordet hatte. Dieser Cicho Ciancio hatte sich nämlich mit einem andern Industriellen seines Schlages, mit dem Bandenchef Giardullo verbunden, um das Geschäft der Entführung eines Angehörigen des Wenner’schen Hauses in Compagnie zu betreiben. Giardullo gestand, ein Mal neun Tage lang sich in der Nähe der Fabrikgebäude aufgehalten zu haben, um die Sache abzuwickeln. Unglücklicher Weise traf nun der äußerst harmlose Taubstumme bei Nacht mit Cicho Ciancio zusammen, und als jener auf die Anfrage des Banditen keine Antwort gab, glaubte dieser einen Verräther vor sich zu haben, den er mit dem Dolche unschädlich machen müsse. Beide Bandenchefs wurden nebst einem andern Briganten zum Tode verurtheilt. Ein unzweideutiges Warnungszeichen erhielt die Familie Wenner endlich dadurch, daß Herr Gubler, ein Theilhaber am Fabrikgeschäft, der in der Nähe seine Wohnung hatte, eines Sonntags bei Nacht angehalten wurde und mehrere Unbekannte ihn bedeuteten, daß er dem sichern Tode verfallen sei, sofern er nicht in kürzester Frist die in der Nähe der Fabrikgebäude liegende Wohnung verlasse. Gubler ist ein junger, muthiger Mann in der Vollkraft seiner Jahre. Er mochte dem Gesindel unbequem sein.

So standen die Dinge um die Wenner’schen Fabriken in den Sommermonaten des Jahres 1865. –

Es war am 13. October – so erzählt uns Herr Lichtensteiger, einer der Angestellten der erwähnten Fabrik – als ich nach meiner Gewohnheit einen Freund in der Umgegend besuchte. Nach mancherlei Gesprächen kamen wir auch auf das Brigantenthum zu reden und auf die Unruhe, in welche die düstern Ereignisse der letzten Monate Salerno und Umgegend versetzt hatten. Sieben Uhr Abends war vorbei, als ich mich auf den Nachhauseweg machte. Die Nacht war pechschwarz und konnte in ihren dunkeln Falten der Briganten Viele verstecken. Doch äußerte ich durchaus keine Besorgniß. Friedrich Wenner Sohn und der Hauslehrer der Familie, Friedli geheißen, ließen es sich nicht nehmen, mich nach meiner Wohnung zu begleiten. Wir traten also zu drei durch das kleine Pförtchen der Ringmauer in die Nacht hinaus. Die Thür des Pförtchens ließ Herr Wenner offen, um dann wieder ungehindert zurückkehren zu können. Kaum waren wir aber auf die Straße hinausgetreten, so hörten wir, wie das Pförtchen sich schloß, und ehe wir recht unterscheiden konnten, ob nicht dunkle Umrisse von Männergestalten sich um uns bewegten, sahen wir uns sofort umringt, mit derber Faust gepackt unter dem halblauten Ausrufe: „Halt! Ihr seid vom Bandenchef Manzo gefangen!“ Ich hatte kaum Zeit, mir eine klare Vorstellung meiner Lage zu machen, als mir, unterstützt von einem in den Nacken gehaltenen Dolche, der zweite Befehl zugeherrscht wurde: „Geben Sie keinen Laut von sich, oder Sie sind des Todes!“ Wenn auch das stumme Gehorchen unter solchen Umständen nicht gerade meine starke Seite ist, so fühlte ich denn doch, daß Stillschweigen für den jetzigen Moment nicht blos äußerst rathsam, sondern, wie Salomo sagt, „Gold“ sei. Stumm und ohne Geräusch traten wir den Marsch an, und ebenso lautlos setzten wir ihn fort. Zur Beruhigung indessen theilte uns Einer aus der Bande mit, daß wir uns weder vor Mord noch Todtschlag zu fürchten hätten; es handle sich um

  1. Man erinnert sich vielleicht noch der während des letzten Herbstes auch durch die deutschen Zeitungen gehenden Nachricht, daß vier Schweizer von italienischen Briganten in der Nähe von Salerno im Neapolitanischen gefangen und in die Berge geschleppt worden seien, wie dies kurz vorher auch dem Engländer Moens passirt war, dessen Erlebnisse bei den Räubern die Gartenlaube schon früher (1866, Nr. 9) erzählt hat. Die Aufregung über die Schmach, welche unsern Landsleuten angethan, war groß in der Schweiz, ebenso die Besorgniß um das Schicksal der Gefangenen, wie nicht minder unsere freudige Theilnahme, als es hieß: „Sie sind frei und wohlbehalten bei den Ihrigen angelangt!“ Mit dem gleichen Interesse, wie die Leser die Erlebnisse des Engländers Moens verfolgten, werden sie gewiß auch die Mittheilungen über die viermonatliche Gefangenhaltung unserer Landsleute entgegennehmen. Die Notizen kommen von einem Thurgauer, welcher in den engsten, täglichen Beziehungen zu seinen vier Landsleuten in Salerno steht, und der sich behufs der Mittheilung für einen weitern Kreis alle Einzelnheiten von ihnen hat erzählen lassen.
    D. Verf.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_311.jpg&oldid=- (Version vom 7.10.2021)