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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

No. 15.

1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Als Reinhard seine Lectüre geendet, reichten sich die beiden Brüder wortlos die Hände und traten an den Sarg. In ihren Adern kreiste das Blut jenes Wunderwesens, das einst den wilden, stolzen Junker in Liebesraserei entflammte, jenes Weibes, dessen glühende Seele, nach Freiheit lechzend, jubelnd dem vergötterten Leib entfloh, der hier im engen zinnernen Schrein zu einem Häufchen Asche zusammensank… Da standen die zwei hohen Gestalten, die Abkömmlinge dessen, der, mit dem Weihekuß der sterbenden Mutter auf der Stirn, hinausgetragen wurde in den Wald, auf die niedrige Schwelle des Dieners, während sein hochgeborner Vater verzweifelnd in den Tod ging.

„Sie war unsere Stammmutter,“ sagte endlich Ferber tiefbewegt zu Reinhard. „Wir sind die Nachkommen jenes Findlings, dessen Abkunft ein Räthsel geblieben ist bis zu dieser Stunde; denn die Papiere, die das Kind in seine Rechte einsetzen sollten, sind mit dem Rathhause zu L. ungelesen verbrannt… Wir müssen die Arbeit für einige Tage unterbrechen,“ wandte er sich an den einen der Maurer, der in verzeihlicher Wißbegierde bis zur Mitte der Leiter herabgeklettert war und von diesem hohen Standpunkt aus in sprachloser Verwunderung die Aufklärung einer Geschichte mit anhörte, die noch in den Lindhofer Spinnstuben eine große Rolle spielte.

„Dafür aber sollt Ihr morgen auf dem Lindhofer Gottesacker ein Grab ausmauern,“ rief der Oberförster hinauf, „ich werde gleich nachher mit dem Pfarrer Rücksprache nehmen.“

„Er trat noch einmal an den Schrank und überblickte die Gewänder, die einst die feinen Glieder des Zigeunerkindes eingehüllt hatten und offenbar mit großer Genauigkeit in der Zusammenstellung aufgehangen waren, wie sie das entzückte Auge des Liebenden an der schönen Lila gesehen hatte. Ferber hatte unterdeß die Mandoline vom Staub gesäubert und schob sie vorsichtig unter den Arm, während Reinhard den Juwelenkasten verschloß und ihn an der im Deckel angebrachten zierlichen Handhabe vom Tisch hob. So stiegen die drei Männer die Leiter wieder hinauf. Droben wurden alle Breter, deren man habhaft werden konnte, zum einstweiligen Schutz gegen Wind und Wetter über die Oeffnung im Plafond gedeckt, und dann trat man den Rückzug an.

Die Damen, die unterdeß in großer Spannung am Fuße des Erkers gewartet hatten, waren nicht wenig erstaunt über den seltsamen Zug, der sich die Leiter herabbewegte. Sie erfuhren aber nicht eher ein Wort von dem, was sich droben ereignet hatte, als bis man unter den Linden angekommen war. Hier stellte Reinhard den Kasten auf den Tisch, beschrieb genau das verborgene Zimmer und dessen Inhalt, zog endlich das verhängnißvolle Papier hervor und wiederholte seinen Vortrag von vorhin, diesmal jedoch bei Weitem fließender.

Schweigend und athemlos lauschten die Damen den Ausbrüchen eines heißen, leidenschaftlichen Herzens. Elisabeth saß blaß und still da, aber als die Stelle kam, die so plötzlich ein grelles Licht auf das dunkle Stück Vergangenheit ihrer Familie warf, da fuhr sie jäh in die Höhe und ihr Auge richtete sich voll unsäglicher Ueberraschung auf das lächelnde Gesicht des Onkels, der sie erwartungsvoll beobachtete. Auch Frau Ferber blieb eine Weile, nachdem der Vorleser geendet hatte, wie betäubt. Für ihren klaren, gewöhnlich sehr ruhig erwägenden Geist war diese romantische Lösung einer Jahrhunderte alten Familienfrage im ersten Augenblick unfaßlich. Miß Mertens aber, der Ferber erst die ganze Tragweite der Entdeckung auseinandersetzen mußte, da sie ja um die Findlingsgeschichte nicht wußte, schlug die Hände über dem Kopf zusammen über die wunderbare Fügung.

„Nun, und haben Sie auf dies Blatt hin Ansprüche auf Ihr Erbe?“ frug sie lebhaft und gespannt.

„Ohne Zweifel,“ entgegnete Ferber, „aber wie sollen wir wissen, worin jenes mütterliche Erbtheil bestanden hat? … Die Familie ist ausgestorben, der Name von Gnadewitz erloschen. Alles ist in fremde Hände übergegangen; wer kann uns sagen, was und wo wir beanspruchen sollen?“

„Nein, dahinein stören wir nicht,“ entschied der Oberförster, „solche Geschichten kosten Geld, und schließlich haben wir vielleicht das Vergnügen, auf einen Vergleich im Betrag von einigen Thalern eingehen zu müssen… Ei was, laß fahren dahin! … Wir sind bisher auch nicht verhungert.“

„Guck, Else,“ wandte er sich dann an Elisabeth, die in stillem Sinnen dagesessen hatte, „nun wissen wir auch, wo Du herkommst mit Deiner zerbrechlichen Taille und den Füßen, die über den Grashalm hinlaufen, ohne daß er sich biegt. Bist gerade solch’ ein Waldschmetterling wie Deine Urahne; würdest auch die Stirn an den Wänden zerstoßen, wenn man Dich einsperren wollte, ’s ist doch Zigeunerblut in Dir, und wenn Du zehnmal die Goldelse bist und eine Haut hast wie Schneewittchen… Da, ziehe einmal die Dinger an, Du wirst gleich sehen, daß Du drin tanzen kannst.“

Er hielt ihr ein Paar winziger Schuhe von verblichenem blauen Seidenstoff hin, die er auf dem Boden des alten Schrankes gefunden und mitgenommen hatte.

„O nein, Onkel!“ rief Elisabeth abwehrend, „das sind

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_225.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)