Seite:Die Gartenlaube (1866) 164.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

der Arbeiter hatte ihr sogar bei Allem, was ihm heilig und theuer, geschworen, zu kommen, und nun schritt sie durch den stillen, einsamen Wald nach Hause. Ungefähr in der Mitte des Pfades, der vom Dorf nach dem Forsthause lief, bahnte sich ein schmaler, nach der Burg Gnadeck aufwärts führender Weg ab. Er wurde selten betreten und wäre deshalb für ein fremdes Auge gar nicht sichtbar gewesen, denn an vielen Stellen überwucherte ihn das Gestrüpp, und das modernde Laub lag so locker aufgeschichtet zwischen den knorrigen Baumwurzeln, als sei es noch nie von der Sohle eines Menschen berührt worden. Elisabeth liebte diesen Pfad und wählte auch jetzt ihn zum Rückwege.

Noch nie war ihr hier ein menschliches Wesen begegnet; heute aber war sie noch nicht weit in die grüne Dämmerung vorgedrungen, als sie die Bemerkung machte, daß ungefähr zwanzig Schritte vor ihr, und zwar rechts, drunten am Abhange, neben dem Stamm einer mächtigen Buche, etwas wie ein Arm sich langsam vorwärts strecke und dann wieder zurücksinke. Sie konnte diese Bewegung um so deutlicher erkennen, als an jener Stelle die Bäume weiter auseinander traten und eine kleine Lichtung begrenzten, deren grüner, heller Rasenfleck wie eine Oase mitten im Waldesdüster lag. Elisabeth schritt unhörbar und langsam weiter und kam dadurch immer näher in das Bereich jener Buche, bis sie plötzlich erschrocken stehen blieb.

An dem Baume lehnte ein Mann. Er kehrte ihr den Rücken zu; sein Haupt war unbedeckt und zeigte einen Wust ungekämmter, struppiger Haare. Einen Augenblick stand er unbeweglich, als lausche er auf irgend ein Geräusch; dann trat er einen Schritt vor, hob den ausgestreckten, rechten Arm in die Höhe, richtete die Mündung einer Pistole hinaus nach der Waldblöße, als wolle er auf einen gegenüberstehenden Baum schießen und ließ nach einer Weile den Arm niedersinken.

„Er übt sich,“ dachte Elisabeth, aber sie dachte es nur, um sich zu beruhigen, denn eine unbeschreibliche Angst hatte sich ihrer plötzlich bemächtigt; sie wußte nicht, sollte sie vor- oder rückwärts laufen, um von dem Unheimlichen nicht bemerkt zu werden, und blieb deshalb gerade wie festgewurzelt stehen.

Da schlug Pferdegetrappel an ihr Ohr. Der Mann drüben richtete sich wie elektrisirt in die Höhe. Wenige Augenblicke darauf erschien jenseits der Lichtung ein Reiter. Der Mann mit der Pistole trat rasch zwei Schritte vor, hob den Arm in der Richtung des Reiters und wandte dabei den Kopf etwas seitwärts… Elisabeth erkannte sofort in den todtblassen, von Haß und Grimm entstellten Zügen den ehemaligen Verwalter Linke, und Jener dort, den sein Pferd immer näher vor die Mündung der todbringenden Waffe trug, war Herr von Walde… In diesem Augenblick ging eine merkwürdige Verwandlung in Elisabeth vor. Hatte sie noch eben mädchenhaft ängstlich vor der Begegnung mit jenem unheimlichen Menschen gezittert, so überkam sie jetzt ein wunderbarer Muth, eine unbegreifliche Ruhe und Beherrschung ihrer selbst in dem Gedanken, daß sie berufen sei, zu retten… Lautlos glitt sie vorwärts und stand plötzlich, wie aus der Erde gewachsen neben Linke, der, das Auge gespannt auf sein Opfer richtend ihre Nähe nicht ahnte… Mit aller Kraft, deren sie fähig packte sie seinen Vorderarm und riß ihn zurück. Die Pistole entlud sich mit einem lauten Knall und die Kugel schlug zischend seitwärts in einen Baum, während der Elende entsetzt zur Erde taumelte. Zu gleicher Zeit scholl ein lauter weiblicher Hülferuf durch den Wald… Der Mörder richtete sich auf und floh in das Gestrüpp… Drüben bäumte sich das Pferd im ersten Schrecken, dann aber flog es, von seinem Herrn angetrieben, über die Wiese und stand mit einigen Sätzen nahe bei Elisabeth, die sich todtenbleich an der Buche festhielt, denn nun, nachdem die Gefahr vorüber, machte die weibliche Natur ihr Recht geltend. Das junge Mädchen zitterte am ganzen Körper, aber ein glückliches Lächeln verklärte ihr blasses Gesicht, als sie Herrn von Walde gerettet vor sich sah.

Er sprang bei ihrem Erblicken bestürzt vom Pferde; sie aber, die eben noch eine so außerordentliche Selbstbeherrschung an den Tag gelegt, stieß einen leisen Schrei aus und drehte sich tödtlich erschrocken um, als sich von rückwärts zwei Arme um ihre Schultern legten; sie blickte in Miß Mertens’ tief erregte Züge.

„Um Gotteswillen, Elisabeth,“ rief die Gouvernante athemlos, „was haben Sie gethan, er konnte Sie ermorden!“

Herr von Walde drang durch den Rest von Gestrüpp, der ihn von den Beiden trennte.

„Sind Sie verletzt?“ fragte er rasch und heftig Elisabeth.

Sie schüttelte mit dem Kopfe. Ohne ein Wort weiter zu sagen, hob er sie vom Boden auf und trug sie nach einem umgestürzten Baumstamm, wo er sie niederließ. Miß Mertens setzte sich zu ihr und lehnte den Kopf des jungen Mädchens an ihre Schulter.

„Nun sagen Sie mir, was geschehen ist,“ sagte Herr von Walde zu der Gouvernante.

„Nein, nein,“ rief Elisabeth angstvoll, „nur hier nicht, wir wollen gehen, der Mörder ist entkommen; er lauert vielleicht im nächsten Gebüsch und führt sein Vorhaben doch noch aus!“

„Linke wollte Sie ermorden, Herr von Walde,“ sagte Miß Mertens mit zitternder Stimme.

„Der Elende! der Schuß galt also mir,“ entgegnete er ruhig, ohne das mindeste Anzeichen von Bestürzung. Er ging hierauf tief in das Gebüsch, durch welches, nach Miß Mertens’ Angabe, Linke entflohen war. Elisabeth zitterte, als er im Dickicht verschwand, und war eben im Begriff, alle Selbstbeherrschung zu verlieren und ihm nachzuspringen, als er zurückkehrte.

„Sie können ruhig sein,“ sagte er zu dem jungen Mädchen, „es ist keine Spur von ihm zu entdecken, der schießt heute sicher nicht zum zweiten Mal… Nun erzählen Sie mir den Vorfall, Miß Mertens.“

Sie war, wissend, daß Elisabeth heute über das Dorf zurückkehre, ihr auf dem schmalen Waldweg entgegengegangen. Langsam vom Berg niedersteigend, hatte sie dieselbe Entdeckung gemacht, wie das junge Mädchen. Die Absicht des Elenden war ihr sofort klar geworden, aber der Schrecken hatte sie dergestalt übermannt, daß sie im ersten Augenblick weder Zunge noch Fuß zu bewegen vermochte. So hatte sie in tödtlicher Angst wie eingewurzelt gestanden, als plötzlich Elisabeth, die sie vorher nicht gesehen, hinter dem Mörder erschienen war. Im Entsetzen über die Gefahr, in welche sich das junge Mädchen begeben, war ihr der Hülferuf entflohen, den man mit dem Schuß zugleich gehört hatte… Sie erzählte dies Alles in fliegenden Worten. „Wo nahmen Sie nur den Muth her, Elisabeth,“ rief sie schließlich, „den Menschen zu packen? .… Ich schaudere schon bei dem bloßen Gedanken an die Berührung und hätte es sicher beim Schreien bewenden lassen.“

„Wenn ich schrie,“ entgegnete Elisabeth einfach, „dann konnte eine unwillkürliche Bewegung des Elenden, infolge des Schreckens, das Unglück gerade herbeiführen.“

Herr von Walde hörte der Schilderung mit großer Ruhe und Aufmerksamkeit zu. Nur als Miß Mertens beschrieb, wie Elisabeth den Mörder mit Blitzesschnelle gefaßt hatte, wechselte er jäh die Farbe und warf einen langen, ängstlich forschenden Blick auf das junge Mädchen, als wolle er sich versichern, daß es auch wirklich unverletzt aus der Gefahr hervorgegangen sei… Er bog sich zu ihr nieder, nahm ihre Rechte und führte sie an seine Lippen; sie fühlte dabei ein leises Beben seiner Hand.

Miß Mertens, welche bemerkte, daß diese Dankesäußerung Elisabeth sehr verlegen machte und ihr eine Purpurgluth auf die Wangen trieb, verließ ihren Platz, hob die Pistole vom Boden auf, die Linke auf seiner Flucht von sich geworfen hatte, und gab sie Herrn von Walde.

„Abscheulich!“ murmelte er. „Der Elende hat sich auch noch einer Waffe bedient, die mir gehört.“

Elisabeth erhob sich jetzt auch und versicherte auf Miß Mertens’ Befragen, daß sie von den Wirkungen des Schreckens ganz und gar nichts spüre und den Rückweg antreten könne. Beide wollten sich von Herrn von Walde verabschieden; allein er band sein Pferd an der verhängnißvollen Buche noch fester an und sagte in scherzhaftem Ton: „Linke ist, wie wir uns heute überzeugt haben, sehr rachsüchtiger Natur; es dürfte leicht sein, daß er meine Lebensretterin im Augenblick noch grimmiger haßt, als mich selbst … ich kann nicht zugeben, daß Sie ihm ohne männlichen Schutz begegnen.“

Sie stiegen den Berg hinauf. Miß Mertens eilte voraus, um auch Herrn von Walde zur Eile anzutreiben, denn es mußten ja doch Schritte zur Verfolgung des Verbrechers geschehen; allein ihre Bestrebungen waren umsonst. Er schritt langsam und schweigend neben Elisabeth, die eine Zeitlang mit sich kämpfte, endlich aber in leisem, verzagtem Ton ihn bat, er möge jetzt nicht wieder allein zu seinem Pferd zurückkehren, sondern dasselbe holen lassen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_164.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)