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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

hatte er sich daheim, neben den wappengeschmückten Equipagen der vornehmsten Schönen Altenglands, in Hyde-Park oder in Kensington-Garden, so stolz gefühlt, wie hier in Paris, wenn die Schauspielerin der Variétés ihm gestattete, sie auf der Promenade des Bois de Boulogne zu begleiten.

Ein Jahr war vorüber und Lord Francis dachte an die Rückkehr nach London. Nicht, daß er des Lebens in Paris und der Sonnenstrahlen aus Melusinens Augen müde geworden wäre, das wunderbare Mädchen fesselte ihn noch wie am ersten Tage, und Paris war und blieb ein entzückender Aufenthalt für jeden reichen, schönen, unbeschäftigten Mann, aber man wünschte ihn seinen Sitz im Parlament einnehmen und verheirathet zu sehen. Zudem folgte seine Schwester jetzt ihrem Gatten nach Indien, und so blieb sein jüngster Bruder Guy ohne Halt und Stütze. Das letztere war es hauptsächlich, was ihn bestimmte abzureisen. Eine zärtliche, fast leidenschaftliche Liebe zu diesem Bruder erfüllte sein Herz, und Melusine hatte sich oft im Scherz eifersüchtig gezeigt über diese Zuneigung. Nie war Francis beredter, als im Lobe Guy’s. Seinen Schilderungen nach war dieser der schönste und geistvollste Jüngling Englands, der liebenswürdigste Idealist, das wunderbarste Gemisch von Feuer und Träumerei, Tollkühnheit und Zagen, Weichheit und unbeugsamstem Trotz.

„Ich fürchte für ihn, wenn die Liebe einst Besitz von seinem Herzen nimmt, die Flammen werden zu hoch emporschlagen, eine irdische Frau wird sich fürchten vor solcher helllodernder Gluth,“ sagte er einmal.

„Ich möchte ihn kennen lernen,“ antwortete Melusine.

„Nein, das darf nicht sein. Ihr würdet Euch hassen und das ertrüge ich nicht,“ gab Francis zur Erwiderung.

„Meint Ihr?! Es wäre interessant, zu untersuchen, ob Ihr Recht habt,“ sprach Melusine.

„Vielleicht bringe ich ihn Euch einmal, wenn ich ihn nach Italien führe. Er ist zart und seine Gesundheit macht mir oft Sorge.“

„Laßt ihn endlich ein wenig bei Seite, mein Freund, und sagt mir, wie ich Euch gestern als Lesbia gefiel.“




Der Abschied von Melusine fiel dem Scheidenden schwerer als er geahnt. Seine Leidenschaft für sie stand noch in voller Blüthe, als er sie zum letzten Mal an sein Herz zog. Sie war so ganz anders, als alle Frauen, die er bis zur Stunde gekannt, immer voller Räthsel, immer von einem dämonischen Zauber, immer unberechenbar. Ob sie ihn liebte? Trotz seines täglichen Verkehrs mit ihm hatte sie es ihm noch nie gestanden. Keine Bitte, keine Zärtlichkeit hatten ihr das magische Wort zu entreißen vermocht. „Verlangt kein Geständniß,“ sagte sie. „Unsere Trennung mag den Beweis liefern, welche Liebe die dauerhafteste, die des Wortes, oder die der That, die Eure oder die meine.“

Lord Francis überwand den Abschied nur durch das Versprechen Melusine’s, möglichst bald ihrer Cousine Cyrilla in London einen längeren Besuch abstatten zu wollen.

Ob die gefeierte Schauspielerin der Variétés dies Versprechen in dem Rausche ihres bewegten Lebens vergaß, oder ob man ihr den Urlaub verweigerte, wer konnte es sagen? Genug. es vergingen fast zwei Jahre, ehe Melusine nach London abreiste. Während dieser Zeit flogen anfänglich viele Briefe über den Canal herüber und hinüber zwischen den beiden Getrennten: allmählich wurden sie seltener, Lord Francis war so viel beschäftigt! Anfangs waren es Briefpakete, nach und nach wurden es Briefe und endlich Briefblätter, arme, durchsichtige Zettel. Er war wirklich viel beschäftigt, der schöne Freund Melusine’s. Seit sechs Monaten der Verlobte der stolzen Lady Geraldine und Mitglied des Parlaments, konnte man keine tagebuchähnlichen Berichte mehr an eine Schauspielerin der Variétés schicken! Melusine war thöricht, daß sie das erwartete, daß sie jene leichten, dünnen Enveloppen prüfend in der Hand wog, ehe sie das Siegel brach, daß ihr Gesicht todtenbleich wurde und ein Zug verzweifelten Schmerzes um ihre Lippen zuckte beim Anblick des armen, winzigen Blattes mit den kalten, kurzen Zeilen.

Lord Francis schrieb groß und fest! Sie fing an, die Worte, dann die Buchstaben zu zählen, die arme Prinzessin Champagner! Wenn sie nur begriffen hätte, wie man nicht Zeit finden konnte zu einem Briefe an die Frau, die man liebt! Von der Existenz einer Lady Geraldine wußte sie nichts. Francis nahm sich bei jedem Briefe vor, es ihr zu schreiben, und erst wenn er das Blatt abgesandt, fiel ihm ein, daß er es wiederum vergessen hatte. Als er im Herbst einige Wochen auf dem Landsitz seiner künftigen Schwiegereltern verlebte, ging gar kein Brief an die bekannte Adresse nach Paris. Da geschah es denn, daß Melusine plötzlich ohne alle Vorbereitung nach London abreiste. Nur der Director der Variétés erfuhr von ihrem Plane. Die Freunde der Schauspielerin fanden die Jalousien geschlossen, die Teppiche auf den Treppen aufgenommen, den reizenden kleinen Salon verödet; der niedliche Käfig war leer, der Wundervogel ausgeflogen. Als sie bei ihrer Cousine eintrat, fiel Cyrilla fast in Ohnmacht vor Schrecken.

„Du kommst wohl zur Hochzeit des Lord Francis?“ fragte sie dann scherzend. „Er heirathet im December!“

„Du hast mich errathen,“ sagte Melusine ruhig, „ich wollte mich vor allen Dingen überzeugen, ob die Braut mir ähnlich sieht.“

„Ganz und gar nicht, Schatz, sie ist groß wie ein Thürsteher, ganz blond und stolz wie eine morgenländische Sultanin,“ berichtete Cyrilla.

„Kommt er noch zu Dir?“

„Ja, aber selten. Sein Bruder ist häufiger bei uns. Du wirst ihn sehen, ein schöner, wunderlicher Träumer, ein Kind!“

Am nächsten Abend sah Melusine den Geliebten wieder in jenem kleinen Kreise, der sich so häufig in dem Salon der berühmten Tänzerin versammelte. Sie saß am Kamin, als die beiden Brüder eintraten. Ein Ausdruck fast des Entsetzens glitt bei ihrem Anblick über das Gesicht des Lords.

„Melusine, welche Thorheit!“ stammelte er völlig fassungslos.

Ihre Augen hielten die seinen fest, er konnte den Blick nicht abwenden; tief und lange sah sie ihn an, es war ein Abschied, welchen die Liebe nahm, der Haß zog in die Wohnung, die jene soeben verlassen.

„Thorheit?“ wiederholte sie dann in scherzendem Ton, „warum? Ich fühlte plötzlich das Verlangen, Cyrilla und London zu sehen und vor allen Eueren Bruder kennen zu lernen. Dies ist Guy, nicht wahr?“ und sie reichte dem Jüngling die Hand hin, wie eine langjährige Freundin es gethan haben würde.

Francis hatte seine Fassung wieder gefunden. Er wurde gesprächig und fast heiter, als er sah, wie unbefangen Melusine sich ihm gegenüber zeigte, wie lebhaft sie augenscheinlich die Schönheit Guy’s bewunderte. Wie eine Bergeslast fiel es ihm vom Herzen, er hatte sich seit seinem Verhältniß zu Lady Geraldine so oft ein solches Begegnen ausgemalt, so oft mit banger Sorge daran gedacht, ohne den Muth zu finden, durch ein offenes Geständniß seiner Verlobung solch’ Zusammentreffen zu verhindern. Er hoffte, nach Männerart, auf die Gunst des Zufalls, auf die wunderbar bewegliche Natur Melusine’s, auf die Unbeständigkeit der Frauen, zu Zeiten sogar auf ein Wunder des Himmels. Es giebt Lebenslagen, in denen die Ungläubigsten zu kindlich Gläubigen werden und mit gefalteten Händen auf die Erscheinung eines helfenden Engels warten, welcher die Folgen ihrer Sünden von ihnen abwende. Die Beziehungen des Lords zu der reizenden Schauspielerin der Variétés ließen sich, das empfand er deutlich ihren Briefen gegenüber, nicht so leicht abstreifen wie jene leichtgeschürzten Verbindungen, die er früher eingegangen und gelöst, eine Melusine konnte man nicht vergessen und verlassen, wie eine andere hübsche Frau. Der Zauber ihres Wesens wirkte nicht nur Auge in Auge, er drang auch in die Ferne. Solche Grazie des Geistes, solche Gluth des Empfindens hatte Francis bei einem Weibe nie geahnt, sie waren von einem dämonischen Reiz für sein Herz wie für seine Sinne. Die wohl temperirte Liebe seiner Braut erschien ihm arm und kalt, ihr ganzes Sein so glanzlos, so gleichförmig, so nüchtern neben der Erscheinung einer Melusine! Und doch wollte und mußte dies verführerische Geschöpf aus seinem Leben gestrichen werden, Lady Geraldine duldete keine Nebenbuhlerin.

Er fing an sich zurückzuziehen, er schrieb weniger, kälter – endlich gar nicht mehr. Melusine sollte in ihren Briefen klagen, fragen, sich erzürnen, dann wollte er ihr die Wahrheit sagen: „Ich darf und will Dich nicht mehr lieben, ich gehöre einer Andern.“

Nichts von alledem, was er erwartete, geschah; es war eben keine Frau wie alle Anderen, deren Herzen er den Todesstreich versetzen wollte. Sie wehrte den Streich ab, er konnte ihr nicht nahe kommen. So ließ er sie denn das Unabwendbare errathen. Und nun war sie plötzlich in London, stand plötzlich vor seinen

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