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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

andere, Leien oder Priele geheißen, kann man überspringen oder durchwaten und so von Watt zu Watt, von Insel zu Insel wandern, und die Insulaner, welche solches unternehmen, heißen Schlick- oder Wattläufer.

Auch ich trat jetzt meine Fußwanderung nach Amrum an; aber nicht allein, was dem Fremden aus mehrfachen Gründen nicht zu rathen, sondern in Begleitung eines kundigen Führers, der diesen Weg allwöchentlich zweimal machte, denn er war der Postbote zwischen Föhr und Amrum. Ein echter Inselfriese, worauf er nicht wenig stolz war, von langer, hagerer, aber starkknochiger, muskulöser Gestalt, mit röthlich-blonden, lockigen Haaren und wasserblauen Augen, die mattweiße Haut mit Sommersprossen und Leberflecken bedeckt. Wir staken Beide in hohen, gethranten Schlickstiefeln, die das Wasser nicht einließen; aber Haik Melw Prottje – so nannte sich mein Begleiter – hatte sich auch im Uebrigen dermaßen ausgerüstet, als gälte es eine Nordpolexpedition. Trotz des Sommertages trug er ein buntes Wollenhemd und darüber eine dicke, blaue Flansjacke, um den Hals einen rothen Wollenshawl und auf dem Kopfe eine Kappe von Seehundsfell, die heruntergezogen Gesicht und Nacken bedeckte und nur die Augen frei ließ.

„Lukkins tu!“ sagte er, als ich nach der Ursache dieser Vermummung fragte. „Man kann nie wissen, was es auf den Watten giebt: kalte, feuchte Winde sind gewöhnlich, nicht selten aber auch Regen- und Hagelschauer.“

Die Brieftasche hatte er sich um den Leib geschnallt, während er auf dem Rücken einen mäßig großen Kasten trug, der nach seiner Angabe verschiedene Eß- und Colonialwaaren enthielt, die er auf Föhr für seine Nachbarn eingekauft. Endlich hielt er in der Hand eine lange Springstange.

Aus der Ferne gesehen, erscheinen die Watten todt und einförmig, aber jetzt konnte ich auf ihnen ein reges Leben und Treiben von mancherlei Pflanzen und Thieren entdecken. Der Boden des Wattenmeeres besteht aus einer dickflüssigen Thonerde, Klei oder Schlick genannt, die häufig mehrere übereinander abgelagerte Schichten von Sand oder Terrig als Unterlage hat. Daneben finden sich ganze Gras- oder Tangwiesen, Torfmoore, Wälder von Baumwurzeln, Austern- und Muschelbänke. Um die Steine ranken sich zierliche Tangbüschel und allerhand Seepflanzen, und sogar in den Spalten der Steine sieht man wundersame Bildungen, nämlich schöne Dendritenlandschaften. Auf den Schlammbänken wimmelt’s von Seesternen und Muschelthieren, Porren und Krabben; große Schwärme von Seevögeln lassen sich hier nieder und finden auf der Schlammbank den Tisch gedeckt. Die tiefer liegenden Wattgründe, welche sich meist an Schlammbänke lehnen, sind die Heimath der Auster, deren Felder große Strecken einnehmen. Ueberall sieht man Fischer und Schlickläufer. Jene fangen in den Wattströmen Schollen und Butten, Aale und Sandspieren, diese sammeln Bernstein und Muscheln, die in Husum zu Kalk gebrannt werden. Einige stechen Seetorf, der theils als Feuerungsmaterial, theils zur Bereitung des friesischen Salzes benutzt wird. Andere sind Sand- und Stranddiebe, die sich vor den landesherrlichen Sand- und Strandvögten gar wohl in Acht zu nehmen haben. In den Rinnen stehen Ewer, Prahme und Boote, in welche Fische, Muscheln und Torfstücke eingeladen und mit der rückkehrenden Fluth fortgeschafft werden. Andere Fahrzeuge sitzen auf dem bloßen Watt, von der Ebbe überholt und müssen nun, um wieder flott zu werden, die nächste Fluth oft mehrere Tage abwarten. Ueberhaupt ist das Geschäft eines Wattenschiffers oder Binnenlandfahrers mit mancherlei Beschwerden und Gefahren verbunden. Er muß genau alle Tiefen und Untiefen, Strömungen, Baaken und Landmarken kennen, sich durch Stürme, Nebel und Eis zurechtzufinden und bei der Enge und Leichtigkeit mancher Wattströme mit seinem Schiffe klug zu laviren und es geschickt hindurchzuschieben wissen. Trotz alledem kann er auf’s Trockene gerathen und Tage lang sitzen bleiben.

Jedes Watt, jede Sandbank haben ihren Namen, ihre Geschichte. Dort ist ein Schlickläufer verirrt oder gar zu Tode gekommen, hier ein Schiff gestrandet oder ein werthvoller Fund gemacht worden. So heißt eine große Sandbank bei Sylt Buttersand, weil auf ihr ein Wattenschiffer mit seinem Fahrzeug vierzehn Tage lang gelegen, bevor eine Springfluth ihn wieder flott machte, während welcher Zeit er in Ermangelung anderer Lebensmittel die Butter verzehrte, in der die Ladung des Schiffes bestand. Eine andere noch größere Bank, die Höntje geheißen, auf der große Austernfelder liegen, war einst der Schauplatz eines Gefechts zwischen friesischen und dänischen Austernfischern, und auf der Hoogebank haben dänische und schwedische Kriegsschiffe, die hier zur Ebbezeit beiderseits auf den Sand und so aneinander geriethen, sich im Frühjahr 1713 eine blutige Schlacht geliefert.

Auge und Ohr werden nirgends leichter betrogen, als auf dem stillen Watt, zumal bei dickem Nebel oder finsterer Nacht, wo das Rauschen der Gewässer und das Gekreisch der Seevögel die überdies mit zahllosen Spukgeschichten angefüllle Phantasie des Schlickläufers sieden machen. Auch mein Führer erzählte mir, wie er sich einst auf dem Watt verirrt habe, von der Fluth überrascht worden und nur mit Mühe dem Tode entronnen sei.

„Aber,“ fragte ich, „wie könnt Ihr Euch verirren auf einem Wege, den Ihr tausend Mal gemacht habt, wo Ihr jeden Stein kennen müßt?“

„Aa Gottat dachan!“ antwortete er. „Bedenkt, Herr, daß der Weg von heute nicht mehr der von gestern ist. Die See verwischt jeden Fußstapfen, jedes Merkzeichen, läßt nicht Stock noch Stein an ihrem Platze, wandelt Thal in Hügel, reißt neue Priele auf und füllt alte aus. Und dann erst der Nebel! Herri Jimandi! Wenn der Euch überfällt, kreist Euch der Kopf und Ihr wißt nicht mehr, was rechts oder links ist.“

„Doch wie mag die Fluth Euch überraschen? Man weiß ja die Stunde ihres Eintretens und soll sie schon in weiter Ferne donnern hören.“

„Uuha!“ machte er. „Die Fluth richtet sich nicht nach dem Kalender, sie kommt früher oder später. Bisweilen hört man sie, aber sie kommt auch leise wie der Dieb angeschlichen.“

„Und kann man ihr nicht entfliehen?“

„Pü – ü – ü!“ lächelte er. „Entfliehen? Ihr wollt der Fluth entkommen?! Und wenn Ihr das schnellste Pferd unter Euch hättet, sie würde Euch doch überholen. Luk so! Ihr hört sie in der Ferne donnern, sie steht in weißer Brandung noch hinter Euch, Ihr geht schneller, aber plötzlich ist sie Euch zur Seite und jetzt quillt sie vor Euch aus dem Boden empor und umzingelt Euch, rechts und links, hinten und vorn. Nein, nein, Ihr könnt der Fluth nicht entlaufen, und wenn Ihr auf dem Winde reitet!“

„Also die Fluth überraschte Euch?“

„Ja, ich hatte den Weg verloren und sie war plötzlich da. Di Blixam! Ich lief nach einer Muschelbank, thürmte Stein auf Stein und stellte mich hinauf; allein sie kam immer höher, Steine waren nicht mehr bei der Hand, und so nahm ich diesen Kasten, schob ihn mir unter die Füße und stützte mich auf die Springstange, damit mich das Wasser nicht umwürfe. Bald ging’s mir über die Kniee, bald über den Leib, endlich bis an die Brust. Dann stand es, aber ich mußte sechs Stunden ausharren, ohne den Kasten wäre ich verloren gewesen.“

„Gräßlich!“ rief ich.

„Wohl gräßlich!“ sagte er. „Doch nicht des Wassers wegen. Das ließ mich in Ruhe, nicht aber die verdammten Traaler.“

„Was sind Traaler?“

„Ae, Ihr seid ein Fremder, ein Pröish, wie ich meine. Nun denn, die Traaler sind Unholde, die Geister Gestorbener oder noch Lebender, die sich in Vögel, Katzen, Seehunde, oft auch in feine Dirnen mit langen weißen Gewändern verwandeln und den einsamen oder verirrten Wanderer ängstigen. Auch mich umflatterten sie, wie ich unter Todesängsten auf der Muschelbank stand, in allerhand Gestalten, schnitten abscheuliche Gesichter, schlugen mich mit den Flügeln, verlachten und verhöhnten mich, und schrieen mir Verwünschungen in die Ohren. Eine Weile ließ ich’s mir gefallen, dann aber wußte ich sie zu verscheuchen.“

„Ihr schlugt ein Kreuz, spracht ein Gebet?“

„Nicht doch. Daran kehren sich die nicht. Nein, ich kniff die Augen fest zu und spuckte ihnen in’s Gesicht. Das können sie nicht vertragen und ließen mich dann in Frieden.“

„Wenn ich Euch recht verstanden, so leben noch heute unter Euch Personen, die heimliche Traaler sind?“

„Gewiß! es giebt deren noch manche auf Föhr und Amrum; aber man kann sie leider nicht mehr, wie es früher häufig geschehen, vor das Dinggericht stellen und auf der Haide verbrennen. Unter ihnen befinden sich Männer und Frauen, junge Mädchen und alte Weiber. Alle Traaler treiben Teufelskünste und Zauberei

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_635.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)