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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

No. 40.   1865.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Die Locke der Charlotte Corday.

„Die Mondesschimmer fliegen,
Als säh’ ich unter mir
Das Schloß im Thale liegen,
Und ist doch so weit von hier!“
  Eichendorff.

Ich sehe es wirklich, in diesem Augenblick, das alte melancholische Herrenhaus auf der vereinsamten Landstraße nach H–, und eine Eichendorff’sche Mondbeleuchtung paßte zu den grauen Mauern, der breiten Steintreppe, dem mächtigen Park mit seinen steinernen Göttergestalten, die alle heimlich Leid trugen um eine fehlende Nase, einen abgebrochenen Arm, eine zerbröckelte Hand, einen losgelösten Fuß. Jetzt ist es seit vielen Jahren unbewohnt und der Obhut eines alten Castellans überlassen, denn der junge M., der es nach dem Tode seiner Verwandten erbte, besitzt eine reizende Villa am Comer See und zieht den Aufenthalt in Licht und Glanz begreiflicher Weise dem Leben in jenem grauen Palaste vor. Und dennoch scheuen manche Fremde, die auf der breiten Schienenstraße Deutschland durchfliegen, jenen Umweg und Zeitverlust nicht, um dem alten Schlößchen einen Besuch zu machen. Man zeigt nämlich dort das einzige wahrhaft getreue Portrait des Mädchens von Caen, der wunderbaren Charlotte Corday. Auf einer Staffelei im Erkerzimmer des linken Flügels steht es, in einen schwarzen Holzrahmen gefaßt, in ergreifender Schönheit. Es ist nur flüchtig angelegt, fast skizzenhaft, von mattem Farbenton, aber der Charakter dieses seltenen Kopfes ist so großartig aufgefaßt, der Blick der Augen so über die Welt gleichsam hinausschauend, daß die Wirkung den Betrachtenden überwältigt. Charlotte Corday trägt ein helles Kleid mit anschließenden Aermeln, ein hochhinaufreichendes Busentuch und die bekannte französische Haube. Ihre aschblonden Haare fallen schwer und etwas nachlässig herab auf die Schultern, aber diese Schultern sind bei aller Fülle in ihren Umrissen fein und edel. Lange Wimpern und schön gezeichnete Brauen beschatten die wundersamsten Augen der Welt. Der Mund ist weich und zärtlich, es sind die sanften und keuschen Lippen einer Frau, während auf der Stirn eine männliche Entschlossenheit thront und die Nase dem Gesicht einen kühnen Ausdruck giebt; die Profillinie ist etwas streng, trotz ihrer Feinheit. Und wie kommt dies lebensvolle, offenbar unmittelbar nach Anschauung gemalte Portrait des berühmten Mädchens in dies deutsche abgelegene Schlößchen? Das ist eine seltsame Geschichte; der alte Sanitätsrath in D., dem hübschen Badeorte, hat sie mir vor langer Zeit einmal erzählt.

Hier ist sie.

Vor vielen, vielen Jahren war das graue Herrenhaus von glücklichen Menschen bewohnt und es gab nichts Erfrischenderes als in die grüne Dämmerung dieses mächtigen Gartens zu blicken, wo auf reinlich gehaltenen Wegen fröhliche Kinder spielten, und gar mancher Wanderer auf der Landstraße blieb an dem eisernen Gitterthor stehen und vergaß alle Müdigkeit, wenn das helle Lachen der Kinderstimmen an sein Ohr schlug. Herr M., der Besitzer dieses Hauses, hatte zwar nur eine einzige Tochter, aber er ließ zu ihrem Vergnügen oft die Kinder der benachbarten Güter in einem großen mit Leinwand überzogenen Wagen abholen und belebte auf diese Weise seinen Park und entzückte zugleich das Herz seines Kindes. Sie sollte durchaus fröhlich sein und nie Zeit finden ihre Mutter, die sie schon im zwölften Jahre verlor, zu vermissen. Eine ältliche brave Pfarrerstochter vom Rhein wurde in’s Haus genommen, eine französische Bonne und eine englische Gespielin. Fräulein Köhler, welche die Leidenschaft besaß, Verse zu machen und Romane zu schreiben, die nie zum Druck gelangen wollten, war sehr gewissenhaft sorglich und treu, und ihre Sentimentalität störte den Hausherrn nicht, da Melanie gar keine Anlage zu irgend einer Gefühlsschwärmerei zeigte und ganz das Naturell ihrer Mutter, einer Französin, geerbt zu haben schien. Auf dem Sterbebett dieser Mutter wurde die kleine Hand Melanie’s in die eines blassen Jünglings gelegt: „Er soll dereinst Dein Mann werden und Du wirst in Paris leben!“ hatte sie zu ihrem Kinde gesagt.

Alphons Dacier[WS 1] war der einzige Sohn eines früh verstorbenen Bruders und die Geschwister hatten ausgemacht, ihre Kinder mit einander zu verheirathen; Herr M. hatte Nichts gegen diesen Plan einzuwenden, da der junge zukünftige Schwiegersohn sehr reich war. Alphons kam nun regelmäßig im Sommer auf einige Wochen in das Schloß, und Melanie verbrachte ein Jahr gleich nach ihrer Confirmation bei einer Tante ihres Verlobten in Lyon. Herr M. selbst hatte sich inzwischen von allen Geschäften zurückgezogen und überließ sich nur noch dem Umgang mit seiner Tochter und einer geheimen Leidenschaft, die er vor den etwas unbarmherzigen Augen seiner verstorbenen Frau hatte verbergen müssen: seiner Neigung zur Malerei. Alle M.’s, die vor ihm das graue Schloß bewohnt, hatten irgend eine wunderliche Grille gehabt. War auch bei dem jetzigen Besitzer von keinem Talent die Rede, wie bei seinem Vorgänger, der ein bedeutender Musiker gewesen, so stand er doch keinem seiner Ahnen in Eifer und Hingabe an seine Neigung nach. Sein Fleiß ließ ihn oft Speise und Trank vergessen, ja nicht selten sogar den Liebling seines Herzens, die reizende Melanie. Er hatte sich ein Atelier eingerichtet in dem größten Zimmer des nördlichen Flügels und brachte dort den größten Theil

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Alphons Rouer, berichtigt in Heft 41.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 625. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_625.jpg&oldid=- (Version vom 7.11.2022)