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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

übermächtige Mann bis zu seinem Tode ebenso freundlich, wie er früher gewesen war, mochten dieselben auch in noch so weiten Abstand von ihm gekommen sein. Dabei erkannte er sie, selbst wenn er ihrer Jahre lang nicht ansichtig geworden war, beim Begegnen stets wieder und redete selbst sie an. Dem Sohne eines in der Nähe der Judengasse wohnenden Bierbrauers, welcher als Knabe oft mit den jungen Rothschilds gespielt und sie gegen die höhnenden Straßenjungen in Schutz genommen hatte, blieb Amschel bis zu dessen Tode dankbar dafür, er behandelte ihn stets als einen seiner besten Freunde und war ihm behülflich, sich ein Vermögen zu erwerben, von dessen Zinsen er die letzten Jahrzehnte seines Lebens behaglich zubringen konnte. Ein Buchhalter in einem christlichen Handelshause, der Sohn eines Rentmeisters, hatte als Knabe den jungen Amschel oft in seines Vaters Stube gesehen, in welche er Geldgeschäfte halber geschickt worden war und in der man ihn oft mit den damals gegen Juden gebräuchlichen barschen Worten vor der Thür hatte warten heißen. Nichtsdestoweniger redete Amschel diesen Mann, so oft er ihm begegnete, freundlich an. Einst fragte er denselben, welcher gleich ihm selbst alt geworden war, wie es ihm gehe. „Nun,“ war die Antwort, „wie es eben einem Buchhalter geht, der es im Leben nicht so gut hat, wie Sie.“

Amschel erwiderte: „Ei, zwischen uns Beiden findet kein großer Unterschied statt; denn wir werden bald Beide im Grabe liegen, und dann wird Niemand mehr den Einen von uns glücklicher preisen als den Andern.“

Wie die Familie Rothschild in unserem Jahrhundert die erste Macht im pecuniären Getriebe der Dinge geworden ist, so ist zu derselben Zeit auch die (jetzt aus sechstausend Seelen bestehende) Frankfurter Judenschaft nicht blos ebenfalls immer reicher geworden, sondern sie hat auch 1864 zum dritten und sicherlich zugleich zum letzten Male völlige Gleichheit der Rechte mit den Christen erlangt. Seit dem Herbste jenes Jahres besteht zwischen den Christen und Juden Frankfurts kein anderer Unterschied mehr, als der des Glaubens; denn damals wurde den Juden auf verfassungsmäßige Weise die vollständige Gleichstellung mit den Christen zuerkannt, nachdem diese ihnen zweimal (1813 und 1850) wieder entzogen worden war. Auch in den Sitten und im geselligen Verkehr sind Juden und Christen einander immer näher gekommen; der Judenhaß früherer Zeiten ist aus den Anschauungen und der Empfindung der heutigen Frankfurter längst geschwunden, und bald wird es voraussichtlich dahin kommen, daß den Christen sogar der letzte schwache Nachklang der früheren Judenverfolgungen, das 1817 durch ganz Deutschland erschollene „Hepp! Hepp!“, kaum als ein möglich gewesenes Factum erscheinen wird.




Sancta Libertas.
Eine literarische Erinnerung.

Es war ein rauher, kalter Octoberabend; der Wind fegte durch die Straßen Berlins und machte die Laternen noch düsterer flammen, als es dazumal gewöhnlich schon der Fall war. In einem engen, nur spärlich erleuchteten Zimmer des Hauses Nr. 7 der kleinen Hamburger Straße, einer Straße, die sich zu jener Zeit – es war um die Mitte der dreißiger Jahre – keiner besonderen Schönheit erfreute, saßen vier junge Leute, alle ziemlich in gleichem Alter stehend, und redeten gar klug über Welt, Bestimmung des Menschen, dichterische Größe und unvergänglichen Nachruhm. Denn, daß wir es kurz sagen: die Leutchen waren Poeten. Und die träumen, reden und sinnen zuweilen gar viel.

Und ob auch der eine von ihnen auf dem blonden Haar die blaue Militärmütze trug und sich durch dieselbe und seine aufgeknöpfte Interimsuniform als Officier kennzeichnete, so war er dennoch durch und durch Poet; ein Poet, den es vor Kurzem erst getrieben, die Auswüchse und Uebelstände seines Standes in einer satirischen Novelle zu behandeln, wofür ihm, nachdem dieselbe in den „Hessischen Blättern“ veröffentlicht worden war, eine Verurtheilung zu Cassation und zehnjährigem Festungsarrest zuerkannt worden war. Wohl war dies Urtheil selbst dem Könige zu hart erschienen, und er hatte die Sache nochmals einem zweiten Kriegsgericht übergeben. Als auch dies auf zwei Jahre Festungsstrafe erkannte, war es wieder der König gewesen, der diese auf zwei Monate herabgesetzt und den jungen Delinquenten nach Trier in Garnison gesendet, nachdem derselbe seine Haft in Jülich abgebüßt. Jetzt war er zurückgekehrt, um die Kriegsschule mit allem Eifer zu besuchen, was ihn freilich nicht abhielt, zugleich der edlen Poesie zu huldigen. Der junge Mann hatte etwas Kaltes in seinem Wesen, das selbst an Theilnahmlosigkeit zu streifen schien, besonders wenn die klaren blauen Augen vor sich hinstarrten, während in dem scharfgeschnittenen hageren, aber schön geformten Gesicht sich keine Muskel rührte. Eine angeborene Schüchternheit ließ ihn zumeist mehr den Hörer, als den Redner in dem Kreise seiner Freunde machen, wie dies denn auch heut, an dem erwähnten Abend, der Fall war. Als jedoch sein Nachbar zur Rechten, eine untersetzte, schmächtige Natur wie er selbst, mit tiefbewegter Stimme – er war seinem Brodstudium nach Mediciner – des Ausspruches seines Collegen Rademacher gedachte, wonach Selbstmordgedanken, in der Brust eines Menschen einmal ernstlich aufgetaucht, niemals wieder vergingen, sondern von Zeit zu Zeit, wenn auch unterdrückt, hervorbrächen, bis der Gedanke zur That geworden sei, wies er diese Ansicht mit Entschiedenheit zurück. Er konnte und wollte sich mit diesem Gedanken nicht befreunden. Aufspringend rief er: „Jeder von uns, wie jeder Mensch, trägt Etwas von einem Columbus in sich. Wir steuern Alle einem fremden, unbekannten Lande entgegen. Sollen wir von unsern eigenen Gedanken, die den muthlosen Genossen des Columbus gleichen, uns zwingen lassen, über Bord zu springen, ehe der Matrose im Mastkorbe ‚Land‘ gerufen? Sancta libertas, ich halte Dich, heil’ger Strand!“

Wie aber, als wäre er über seine eigene Erregtheit erschreckt und als fürchte er den Genossen und Freund, dessen tiefes inneres Leid er mehr ahnte als wußte, durch seine Worte verletzt zu haben, setzte er ruhiger hinzu: „Und doch hat auch wieder der Gedanke Etwas für sich. Ist es mir doch ähnlich mit einer Idee ergangen. Ihr kennt alle Drei mein Märchen ‚Schön Irla‘! Und während Ihr denkt und meint, dasselbe sei erst jetzt gleichsam empfangen und geboren, ist es doch nur ein verklärter Nachhall einer meiner frühesten Erinnerungen aus schöner Kindheit. Mein lieber Stiefbruder Carl, mit dem ich, wie Ihr wißt, Percy’s Ueberreste altenglischer Poesie übersetze, spielte mir jüngst ein schwedisches Wiegenlied. Die Melodie blieb mir im Kopf, sie summte mir im Ohr, ich konnte sie nicht vergessen, und so gab ich mich endlich diesen Träumen hin, wurde im Traume wieder ein Kind und rief, wie damals, wenn ich im Zimmer allein war, der eintretenden Mutter zu: ‚Schau! die Irla kommt‘, während ich zugleich freudig hinzusetzte: ‚Lieb Irla, bist Du da?‘ Wenn mich dann die Mutter fragte: ‚Wen meinst Du, närrisch Kind? Und mit wem sprichst Du? es ist Niemand hier!‘ hab’ ich unwillig gerufen: ‚Siehst Du sie nicht? Die Irla ist’s!‘ Mehr ist damals nicht aus mir heraus zu bekommen gewesen. Jetzt hab’ ich jenem Kindheitstraum Leben und Gestalt gegeben – und das Märchen ist entstanden!“

„Ja! ja!“ rief der Dritte, eine starkknochige, große hagere Figur, während er die braune Pelzmütze sich tiefer über das struppige, schwarze Haar zog. „Jeder Mensch besitzt einen Schatz von Kleinigkeiten, die nur für ihn Werth haben. Wir Poeten machen aus solchen Kleinigkeiten höchst geistreiche, unsterbliche Lieder – denn die meisten Dichter können nur dichten, wenn sie verliebt sind oder wenn sie zuvor dem beseligend heitersten Gott gehuldigt haben. Es ist nur fatal, daß selbst diesem schönen Doppelrausche ein Zustand folgt, den die schnöde Welt mit dem prosaischen Ausdruck ‚Katzenjammer‘ benamset. Als ich aus dem Weinkeller der Burgstraße stieg, mußte ich sogar eines Verses denken, der letzthin im ‚Gesellschafter‘ unter schönem Bilde stand:

‚So leb’ denn wohl, du Jungfer Kanne,
Du Fräulein Flasche nun, ade!
Und muß ich jetzund auch von danne,
Denk wohl, daß ich euch wiederseh.‘

Ich kann den Vers nicht los werden und dabei ist es mir immer,

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