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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

No. 37. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die zwölf Apostel.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Der alte Jacob hatte, während er noch mit Werner sprach, einige Luken zugemacht, schüttelte sich den Staub von Rock und Mütze, der hier oben massenhaft bei jedem Schritt aufwirbelte, und verließ darauf, nachdem er noch liebkosend mit der Hand über die große, prächtige Glocke gestrichen hatte, mit dem jungen Manne den Thurm. Sie schritten durch mehrere Straßen, bis sie vor einem großen, etwas düster aussehenden Gebäude – Werner’s Hause – stehen blieben. Hier sagte der junge Mann:

„Um in die Schwemme zu reiten, bist Du nun zu alt, lieber Jacob; die Aepfel vom Baume kann ich mir jetzt auch selbst holen, denn ich habe ein Paar tüchtige Arme, wie Du siehst. Aber eine männliche Aufsicht in meinem Haus und Garten und ein treues, ehrliches Gesicht, welches mir jeden Augenblick meine fröhliche Kinderzeit zurückruft, das kann ich brauchen. Wenn Du also willst, guter Alter, so kannst Du sammt Deiner Frau jeden Tag in die hübsche Hofwohnung meines Hauses einziehen. Es ist mir eine Freude, für Deine alten Tage zu sorgen. Deshalb aber bleibt es Dir doch unverwehrt, den Glocken und Deinem scheuen Liebling aus dem Thurme jeden Sonntag Deinen Besuch zu machen.“

Jacob sah ihn an, als träume er. Zitternd faßte er die Hand Werner’s, brachte aber in all seiner Glückseligkeit nichts weiter heraus, als: „Ach, Herr, ob ich will! … Mit tausend Freuden, ja! Aber lassen Sie mich jetzt geschwind heim. … Was wird nur meine Alte dazu sagen, die springt deckenhoch vor Freude, wenn’s noch geht mit ihren alten Beinen!“

Und damit rannte er spornstreichs die Straße hinab. Werner faßte den blanken Messingknopf an der Hausthür und läutete. Alsbald erschien droben im schrägen Spiegel am Fenster ein altes Damengesicht mit hochmüthigen, harten Zügen, von einer sehr gesteiften, schneeweißen Haube umgeben; es verschwand ebenso schnell wieder und sogleich öffnete sich der Thorflügel mit jener Schwerfälligkeit und Vornehmheit, wie sich massive Thorflügel in alten und reichen Häusern zu öffnen pflegen.

Der junge Werner war das einzige Kind sehr vermögender, angesehener Eltern, die er jedoch schon im fünfzehnten Jahre verlor. Ein alter Onkel, geistlichen Standes und in einer entfernten Stadt wohnend, wurde sein Vormund und nahm ihn zu sich. Hier erhielt er eine vortreffliche Erziehung. Er besuchte das dortige Gymnasium, bezog später die Universität und ging dann nach Italien, dem Ziel seiner heißesten Jugendwünsche. Er hatte ein ausgezeichnetes Malertalent und lebte dort, völlig unabhängig durch sein Vermögen, nur der Kunst. Nach sechsjährigem Aufenthalt im Süden erfaßte ihn jedoch mit einem Male das Heimweh und er kehrte nach Deutschland zurück, um wenigstens auf einige Zeit wieder an dem Orte zu leben, wo er ein glückliches, vorzüglich von der Mutter zärtlich geliebtes Kind gewesen war. Eine alte, verwittwete Tante hatte während seiner langen Abwesenheit sein Vaterhaus bewohnt und im Stand erhalten, und so fand er bei seiner Zurückkunft wenigstens eine bequeme Häuslichkeit, wenn auch kein treuer Mutterarm ihn mehr empfing und jener Liebesstrahl des mütterlichen Auges erloschen war, der seine Kindheit verklärt hatte.


Wer zu der Seejungfer wollte, der mußte durch den düstern, von alten verfallenen Gebäuden eingeschlossenen Klosterhof. Im Flügel rechts befand sich eine Thür, deren hoher, gewölbter Bogen noch sehr schöne Spuren eines kunstreichen Meißels trug; an der Thür selbst aber waren einzelne Breter aus dem Gefüge gewichen, was seltsam contrastirte mit dem ungeheuren Schloß und den massiven, eisernen Beschlägen, die für alle Zeiten gemacht zu sein schienen. Dieser Eingang führte in ein kellerartiges Gewölbe; am Ende dieses tiefen Ganges lief eine schiefe, halsbrechende Treppe in das obere Stockwerk. Hier wohnte die Seejungfer und da war es licht und sonnenhell, wenn auch klein und eng – man vergaß in dem sauberen Wohnstübchen mit dem ungeheuren Kachelofen und den weißgescheuerten tannenen Möbeln sofort den unheimlichen Eingang.

An dem offenen Fenster, das hinaus auf die Mauer führte, saß Magdalene. Zu ihren Füßen stand ein Korb mit frisch gebügelter Wäsche, und der Fingerhut an der Hand und ein Stück Leinenzeug auf ihrem Schooße zeigten, daß sie beschäftigt war, die Wäsche auszubessern. Aber die Nadel ruhte. Betrachtete man diese hohe Mädchengestalt, so mußte sich unwillkürlich der Blick des Beschauers fragend nach der Zimmerdecke richten, ob sie wirklich beabsichtige, so niedrig, schief und angeräuchert hängen zu bleiben über diesem schönen Haupte, das so stolz auf dem Nacken saß, über dieser ausdrucksvollen Stirn und den wunderbaren Augen darunter. …

Das altmodische Schränkchen mit den Glasthüren und den grünen Wollvorhängen stand offen. Die Bücherreihen darin sahen nicht mehr neu aus, einige davon erschienen sogar recht abgegriffen, auch standen sie durchaus nicht so schön steif da, wie die wohlgeordneten Truppen vornehmer Bibliotheken, die zwar ausgezeichnet equipirt werden, sehr selten aber in’s Treffen kommen – man sah vielmehr einzelne, die flüchtig und halb hineingesteckt waren,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 577. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_577.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2017)