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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Chaussee halten. Sogar einen Theil der Straßen in der Stadt durften sie früher kaum zu betreten wagen. Ueber das Pfarreisen, d. i. den an der Hauptkirche liegenden Platz, durch die zu Passagen benutzten Kreuzgänge der Kirchen und über den sogenannten Holz- und Zimmergraben zu gehen, war ihnen geradezu verboten, und wenn ein Jude dies doch that, so wurde ihm durch Vorübergehende der Hut vom Kopfe gerissen. Auch den Römerberg oder den vor dem Rathhaus liegenden Platz durften sie nur längs der Häuser seiner Ostseite betreten, und sogar dies war ihnen blos in der Zeit der Messen gestattet. Die einzige Ausnahme hiervon fand dann statt, wenn die Juden das aus Gewürz bestehende Neujahrsgeschenk, welches sie jedem Schöffen machen mußten, in den Römer, d. i. in das Rathhaus, brachten. Hatte ein Jude sonst etwas im Römer zu thun, so mußte er an dem hinteren Theile desselben in ihn eintreten.

Selbst in den ihnen gesetzlich zugänglichen Straßen waren sie den Mißhandlungen und Kränkungen seiten des Pöbels und junger Leute preisgegeben. Schon drei Jahre nach ihrer Uebersiedelung in die Judengasse war der Rath genöthigt, durch eine besondere Verordnung zu gebieten, daß man die Juden auf den Straßen nicht schlage und ihnen nicht Schimpfworte zurufe. Dergleichen Gebote fruchteten jedoch nichts; im Gegentheil, die Mißhandlung und Verhöhnung der Juden wurden im Laufe der Zeit immer ärger. Man warf sie mit Steinen, Koth und Schneebällen, rupfte sie am Bart, stieß sie und dergl. mehr. Auch pflegten die meisten Christen einen Juden nicht anders als mit Du anzureden. Diese Mißhandlungen dauerten bis zum Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts fort. Namentlich nahm zuletzt jeder christliche Gassenjunge das Recht in Anspruch, einen ihm begegnenden Juden durch den Zuruf: „Judd’, mach’ Mores!“ zur Abnahme des Hutes zu zwingen. Noch leben Leute, welche dies als Knaben gethan haben, und der 1855 gestorbene Amschel von Rothschild hatte in seiner Jugend sich mehr als einmal einer solchen Mißhandlung unterwerfen müssen.

Kehren wir nun zur Beschreibung der Judengasse zurück, so war diese in Folge einer argen Mißhandlung der Juden, unter den besonderen Schutz von Kaiser und Reich gestellt worden. In Frankfurt hatten nämlich die Zünfte, welche mehrere Jahre hindurch im Aufstand begriffen waren, alle Gewalt an sich gerissen, und am 22. August 1614 waren die verhaßten Juden in ihrer Gasse durch eine meist aus Handwerksgesellen bestehende bewaffnete Pöbelschaar überfallen worden. Anstifter des Ueberfalles war der Lebküchler Vincenz Fettmilch gewesen, welcher als leitendes Oberhaupt an der Spitze der empörten Zünfte stand. Die Juden hatten, von dem Vorhaben des Pöbels in Kenntniß gesetzt, sich nicht nur bewaffnet und das Straßenpflaster aufgerissen, sondern auch die Eingangsthore ihrer Gasse verschlossen und dasjenige Thor, durch welches der Angriff projectirt war, verbarricadirt. Die Angreifer drangen jedoch durch ein an dieses Thor anstoßendes, aus Fachwerk bestehendes Haus, welches sie zerstörten, in die Gasse ein. Es entstand nun um vier Uhr Abends ein etwa acht Stunden dauernder Kampf, in welchem es auf beiden Seiten Verwundete gab und zwei Juden sowie ein Christ getödtet wurden. Die Juden waren der Ueberzahl ihrer Feinde nicht gewachsen, und wurden immer weiter zurückgedrängt, während ein Theil ihrer Gegner die unvertheidigten Häuser zu plündern begann. Sie waren bis gegen die Mitte der Gasse zurückgewichen, als endlich der eine der beiden Bürgermeister mit bewaffneten Bürgern erschien und die Angreifer und Plünderer aus der Gasse hinaustrieb. Jetzt begaben sich alle Juden auf den am anderen Ende der Gasse gelegenen Judenkirchhof, in welchen gleich anfangs die Weiber und Kinder geflohen waren; doch hatte ein Theil der Juden während des Kampfes auch in christlichen Häusern Zuflucht gesucht und gefunden. Am anderen Morgen holten die Juden so viel von ihren Habseligkeiten, als sie fortbringen konnten, aus der vom Bürgermeister besetzt gehaltenen Gasse und trugen es auf ihren Friedhof. Sie waren noch immer in großer Gefahr, weil ein Theil des Pöbels ihnen den Tod geschworen hatte und Vincenz Fettmilch im Namen der Bürgerschaft ihnen förmlich den Schutz aufkündigte. Der seines Ansehens beraubte Stadtrath war außer Stande, sie zu schützen, und beschloß daher, sie schnell aus der Stadt fortbringen zu lassen. Dies geschah denn auch in der Mittagszeit des 23. August.

Die Juden lebten hierauf anderthalb Jahre lang in den benachbarten Ortschaften, in welche sie sich vertheilt hatten. Während dieser Zeit wurde der in Frankfurt waltende Aufstand, durch die vom Kaiser hiermit beauftragten Fürsten von Mainz und Hessen-Darmstadt, völlig unterdrückt und die Zurückführung der Juden beschlossen. Diese fand an demselben Tage statt, an welchem die Leiter des Aufstandes ihre Strafe erhielten (28. Februar 1616).

Am frühen Morgen dieses Tages mußten alle Frankfurter Juden vor einem der Stadtthore erscheinen und dort so lange warten, bis Fettmilch nebst sechs anderen Volksführern auf einem freien Platze der Stadt enthauptet, neun andere aber unter den Peitschenhieben der Henker zur Stadt hinaus und an den Juden vorbei in die Verbannung getrieben und noch dreiundzwanzig Schuldige, ohne dabei vom Henker geschlagen zu werden, zur Stadt hinausgebracht worden waren. Nachdem dies Alles geschehen, wurden die Juden von Mainzischen und Hessischen Truppen in die Stadt zurückgeführt und an der Richtstätte vorbei in die Judengasse geleitet. Dieser Zug durch die Stadt fand unter Trommelschlag statt. Ein Jude des Namens Oppenheim war über die Rückkehr in seine Vaterstadt so sehr erfreut, daß er einen Trommler dringend bat, ihn doch auch die Trommel schlagen zu lassen. Seine Bitte wurde gewährt, und die anderen Juden gaben ihm dafür den Beinamen Trumm, welcher seiner Familie bis zum heutigen Tage geblieben ist. Einer seiner Nachkommen war der reiche Bankier Oppenheim in Hannover, in dessen Geschäft um 1765 der Gründer des weltberühmten Hauses Rothschild mehrere Jahre lang arbeitete, was, wie wir unten sehen werden, den ersten Anlaß zur Erwerbung des Rothschild’schen Reichthums gab. Als die zurückgebrachten Juden vor ihrer Gasse angekommen waren, mußten sie einen Kreis bilden, um die neue, von den kaiserlichen Commissären verfaßte Juden-Ordnung anzuhören, ehe sie in ihre Wohnungen zurückkehrten. Hierauf wurde an jedes der drei Gassenthore ein großes Schild angeschlagen, auf welches der Reichsadler gemalt war mit der Aufschrift: „Römisch kaiserlicher Majestät und des heiligen Reichs Schutz“. Die christliche Bürgerschaft mußte, auf kaiserlichen Befehl, den Juden in den nächsten Monaten 176,000 Gulden als Entschädigung für die Plünderung von 1614 bezahlen. Uebrigens feierten seitdem die Frankfurter Juden und feiern noch immer jährlich zwei Feste, welche dem Andenken an ihre Vertreibung und ihre Rückkehr gewidmet sind. Beide werden nach dem Vornamen Fettmilch’s benannt.

Die damals aus einhundert fünfundneunzig Häusern bestehende Judengasse war von vierhundert vierundfünfzig Familien bewohnt. Auf jedes Haus kamen also zwei bis drei Familien, und da zu jener Zeit die Seelenzahl der Juden zwischen zweitausend fünfhundert und viertausend betrug, so enthielt jedes Haus dreizehn bis zwanzig Personen. Hundert Jahre später (1711) belief sich die Zahl der Frankfurter Juden, nach der geringsten Schätzung, auf etwa achttausend Seelen, und damals wohnten also in jedem Hause durchschnittlich einundvierzig Menschen. Die Bewohner der Judengasse waren um so mehr beengt, da alle Häuser eine so geringe Breite hatten, daß sie nach vorn nur ein einziges Zimmer enthielten.

Im Jahre 1711 brannte die Gasse völlig ab und alle heutzutage in ihr stehenden Häuser sind erst in und nach diesem Jahre erbaut worden. Man nennt die Feuersbrunst, welche damals die Judengasse einäscherte, den großen Judenbrand, zum Unterschied von dem sogenannten großen Christenbrande, welcher acht Jahre später nicht weniger als vierhundert christliche Häuser Frankfurts vernichtete. Die Veranlassung des großen Judenbrandes ist ungeachtet der darüber gehaltenen strengen Untersuchung nicht ermittelt worden. Das Feuer brach am 14. Januar 1711 Abends halb neun Uhr aus, und zwar im Wohnhause des ersten Rabbiners, welches fast in der Mitte der Gasse lag. Man eilte von Seiten der Christen sogleich zum Löschen herbei, allein die Juden hielten aus Furcht vor Plünderung die Thore ihrer Gasse eine ganze Stunde lang verschlossen, und als sie dieselben endlich öffneten, stand bereits eine Anzahl Häuser in vollen Flammen. Der zufällig herrschende heftige Wind und die Enge der Gasse wurden Ursache, daß, bis auf drei am östlichen Ende derselben abgesondert stehende Gebäude, alle Häuser darinnen niederbrannten. Manche Juden sahen die völlige Vernichtung ihrer Gasse als ein Zeichen an, daß Gott über die Frankfurter Juden erzürnt gewesen sei und sie Alle habe strafen wollen. Sie wurden in diesem Glauben durch den Umstand bestärkt, daß von allen benachbarten christlichen

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