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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Frau Werther.

Die „Gartenlaube“ ist durch den nachstehenden Artikel mit einer ebenso seltenen wie tiefernsten Bestimmung betraut worden: sie soll, möglicherweise, ein junges Menschenleben vor dem Fallbeil des Scharfrichters retten. Es gilt Geheimnisse an das Licht zu ziehen, welche vielleicht im Schooße einer einzigen Familie, vielleicht in einer einzigen Menschenbrust verborgen sind, und weil die „Gartenlaube“ an dem Heerde von Tausenden von Familien heimisch ist, bis zu welchen oft nur wenig andere öffentliche Blätter vordringen, so hat ein Beamter der Oberstaatsanwaltschaft von Sachsen-Weimar es für seine Pflicht gehalten, in unserem Blatte noch einen Versuch zum Herbeiruf eines Zeugnisses zu machen, das allein dem Richterspruch nach Geschworenen-Urtheil über ein verwirktes Leben entgegentreten, eine vielleicht Unschuldige aus der Todesnoth erlösen und die deutsche Rechtspflege vor einem Justizmord bewahren kann.




Am 22. Mai d. J. wurde vor dem Schwurgerichte zu Eisenach eine Untersuchung zu Ende geführt, für deren mannigfache Räthsel und Geheimnisse der Wahrspruch der Geschworenen selbstverständlich nur eine Entscheidung, aber keine Lösung zu bieten vermochte.

Des Mordes angeklagt, stand Amalie Wechsung aus Oldisleben vor Gericht; aber sie leugnete beharrlich ihre Schuld, Niemand war da, welcher Zeuge der dunklen That gewesen wäre, und so mußte denn der Beweis durch Indicien geführt werden, d. h. durch eine geeignete Zusammenstellung von einzelnen Umständen, Ereignissen und Beobachtungen, welche in ihrer Vereinigung und Gesammtwirkung keinen Zweifel mehr an der Schuld des Verbrechens übrig lassen können. Ein solcher Beweis ist schwer, und doppelt schwer da, wo ein drohendes Todesurtheil, dessen Folgen nie getilgt werden können, zur höchsten Vorsicht ermahnt: aber er wirkt auch dann, wenn er durchgeführt wird, ergreifender und tiefer, als jede andere Art der Ueberführung. Zeugen können sich täuschen, oder sich zum Verderben eines Unschuldigen vereinigen, Angeklagte können sich aus Lebensüberdruß, oder um Andere in ihr eigenes Schicksal mit zu verstricken, für schuldig bekennen, ohne es zu sein: wo aber an den verschiedensten Orten und unter den verschiedensten Umständen Tausende von sonst kaum beachteten Kleinigkeiten sich vereinigen, um unter ihrer Gesammtlast den Schuldigen zu erdrücken, wo die stillen Fluthen Sprache gewinnen, einzelne Blutstropfen, wie im Märchen, vernehmlich reden, und Steine selbst nach Rache schreien, da fühlt man schauernd die Nähe einer höheren, vergeltenden Macht, welche den verborgenen Verbrecher an das Tageslicht zieht und ihm seinen Richtern überliefert.

Einen Beweis dieser Art galt es gegen die Wechsung zu führen.

Die Angeklagte ist jetzt dreißig Jahre alt, von mittlerer Größe und schlankem Wuchse, die Züge ihres mageren, etwas gebräunten Gesichtes verrathen noch jetzt, daß sie einst hübsch war, ihre Stimme klingt sanft und gewinnend, ihr Haar ist dunkel, um den hübschen Mund lagert sich der Ausdruck der Sinnlichkeit, während aus den hellblauen Augen ein leichter oberflächlicher Geist oder aber eine wohlmaskirte Heuchelei zu sprechen scheint. Obwohl den unteren Volksclassen angehörig, weiß sie doch ihre Worte gut zu setzen und führte während der langen Verhandlung die Vertheidigung für ihr Leben mit so viel Ruhe, Umsicht und Kaltblütigkeit, daß sie einem erprobten Krieger zum Muster hätte dienen und einen Advocaten der englischen Schule zur Begeisterung hätte entflammen können.

Im Jahre 1853 gebar Amalie Wechsung ein Mädchen, und im Jahre 1857 Zwillinge, beide ebenfalls Mädchen. Alle diese Kinder starben auffallend schnell: das eine nach drei Wochen, das andere nach sieben Wochen, das dritte nach einem und drei Vierteljahren. Haftet auch schon ihr Blut an den Händen der Angeklagten? Der öffentliche Ankläger lieh diesem Verdachte klare Worte, allein die kleinen Leichen sind längst wieder zu Erde geworden; versuchen wir es daher nicht, diesen Schleier zu lüften, und lassen wir der Angeklagten ihr düsteres Geheimniß! Im Jahr 1859 stand dieselbe abermals im Verdacht, heimlich geboren zu haben; man hatte eine Kindesleiche in einem Baum gefunden, aber es fehlte an Beweisen, und die Untersuchung mußte auf sich beruhen bleiben.

Am 20. April 1864 mußte Amalie, die zuletzt bei dem Gastwirth Wolf in der Theaterstraße in Leipzig als Köchin in Diensten gestanden hatte, in das Trier’sche Entbindungsinstitut daselbst gebracht werden und gab hier, obschon sie gegen Jedermann ihren Zustand verleugnet hatte, am 26. April 1864 einem Knaben das Leben, welcher in der Taufe die Namen Johann Ludwig Wilhelm erhielt und im Leipziger Kirchenbuche als nach Oldisleben gehörig eingetragen wurde.

Noch vierzehn Tage verweilte sie in dem Institute, dann verließ sie mit ihrem Kinde dasselbe am 11. Mai 1864 und trat Tags darauf, am 12. Mai, früh um fünf Uhr bei der ihr befreundeten Familie des Arbeitsmannes Bertram zu Halle, wo sie vor ihrem Leipziger Aufenthalte gelebt hatte, in’s Zimmer, jedoch – ohne ihr Kind. Ihr leidendes Aussehen fiel den Bertram’schen Eheleuten sofort auf, allein sie suchte dasselbe durch kranke Füße zu entschuldigen. Am Nachmittag des 13. Mai verließ sie die Bertram’sche Wohnung wieder mit der Aeußerung, daß sie nun nach Stadtsulza zu ihren Großeltern fahren wolle; statt aber diesen Vorsatz auszuführen, erschien sie am 14. Mai Abends um dreiviertel acht Uhr bei der Frau des Schmiedegesellen Fuchs in Halle und versicherte dieser, daß sie soeben mit der Eisenbahn von Leipzig gekommen sei, um ihren Geliebten zu besuchen. Bei der Fuchs erkrankte sie nach wenigen Tagen und blieb fünf Wochen lang krank, immer indeß ohne das Geringste von dem in Leipzig Vorgefallenen zu erzählen.

So breitete sich denn allmählich Schweigen über die ganze Angelegenheit und diese schien bereits vollkommen der Vergessenheit anheimgefallen zu sein, als die Wechsung zu Anfang des Septembers 1864 in ihrem Heimathsorte Oldisleben wieder eintraf und von dem dortigen Gemeindevorstande – welcher durch das Leipziger Polizeiamt von ihrer Entbindung benachrichtigt worden war – nach dem Verbleiben ihres Kindes gefragt wurde. Jetzt erst räumt sie das Geschehene ein, und es taucht nun in ihren Erzählungen eine Person auf, deren Verhalten offenbar räthselhaft und geheimnißvoll, deren Vorhandensein zwar zweifelhaft, aber nicht unmöglich ist und an deren Existenz das Leben der Angeklagten hängt. Fassen wir Alles zusammen, was die Wechsung über jene Person anzugeben vermag, denn es gilt vielleicht, eine Unschuldige zu retten und das Henkerbeil aufzuhalten, welches bereits drohend über ihrem Haupte schwebt.

Acht Tage vor ihrer Entlassung aus dem Trier’schen Entbindungsinstitut, so erzählt die Angeklagte, fand sich daselbst eine anständig gekleidete Frau in einem Alter von etwas über dreißig Jahren ein, welche sich den Namen „Frau Werther“ beilegte und sich gegen sie erbot, ihr Kind an sich zu nehmen und aufzuziehen; mehrere weibliche Patienten des Institutes sollen diese Unterredung mit angehört haben, ohne daß die Angeklagte deren Namen anfänglich zu nennen vermochte. Erst in der Hauptverhandlung behauptete die Wechsung, daß ihr nunmehr die Namen dieser Personen eingefallen seien, aber sowohl sie, als ihr Vertheidiger versäumten es, die Ermittelung und nachträgliche Vernehmung derselben ausdrücklich zu beantragen. Es steht ferner durch die Aussage der Hebamme Richter, welche die Wechsung unter ihrer Obhut hatte, fest, daß Jene an den ihrer Entlassung aus dem Institute vorhergehenden Tagen mehrmals sich unter dem Vorwande entfernte, daß sie noch ihr Dienstbuch und den rückständigen Lohn von ihrem Dienstherrn zu holen habe. Am Tage ihrer Entlassung wurde sie mit ihrem Kinde angeblich von der Frau Werther am Eingange des Trier’schen Institutes in Empfang genommen: die Straßen, durch welche Beide gingen, vermag sie nicht mehr anzugeben, denn sie hat, wie erwiesen ist, die Wohnung ihrer Dienstherrschaft fast nie verlassen und kennt deshalb Leipzig nicht; nur soviel ist sie im Stande mitzutheilen, daß die Frau Werther mit ihr erst eine Strecke geradeaus und dann „links um die Ecke herum“ gegangen und daß sie bei ihrer großen Erschöpfung ziemlich eine halbe Stunde gebraucht habe, ehe sie zur Wohnung der Frau Werther gelangt sei. Letztere habe in einem anständigen Hause drei Treppen hoch gewohnt und sei recht gut eingerichtet

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