Seite:Die Gartenlaube (1865) 553.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Zur Nachricht.

Art. 1. Vom 1. November 1862 an wird allen Arbeiterinnen der Fabrik Dollfus-Mieg und Co. eine Geldunterstützung bewilligt, sobald sie in Wochen sind, und zwar unter folgenden Bedingungen:

Art. 2. Um ein Recht auf diese Unterstützung zu haben, muß die Entbundene wenigstens ein Jahr lang ohne Unterbrechung in den Werkstätten der Herren Dollfus-Mieg gearbeitet haben.

Art. 3. Die als tägliche Unterstützung auszuzahlende Summe soll dem durchschnittlichen Tagelohn der sechs Monate gleich sein, die dem Tage der Arbeitseinstellung vorangegangen sind.

Art. 4. Die Arbeiterinnen bekommen diese Unterstützung sechs Wochen lang, vom vierzehnten Tage nach der Niederkunft an gerechnet.

Art. 5. Im Fall das Kind sterben sollte, hört die Unterstützung vom Tage seines Todes an auf.

Art. 6. Der Fabrikarzt der Herren Dollfus-Mieg wird die Wöchnerin besuchen und alle vierzehn Tage Zeugnisse ausstellen, auf welche hin die Auszahlung an den gewöhnlichen Zahltagen erfolgt.

Art. 7. Nach den Statuten des Unterstützungsvereins haben die Frauen ein Recht auf die gewöhnlichen Hülfsgelder aus der Casse desselben, wenn sie mehr als dreißig Tage nach der Niederkunft krank werden. Da diese Bestimmung in Geltung bleibt, so wird in einem solchen Erkrankungsfalle die Art. 3. erwähnte Unterstützung nicht ferner gewährt.

Art. 8. Jede Arbeiterin muß, so lange sie Unterstützung erhält, alle Arbeit einstellen, um ihrem Kinde die nöthige Sorgfalt widmen zu können. Von dem Tage an, wo sie dieser Verpflichtung zuwiderhandelt, werden ihr keine Hülfsgelder mehr ausgezahlt.

Art. 9. Die Herren Dollfus-Mieg werden die Wöchnerinnen häufig durch eine Person besuchen lassen, die im Stande ist, ihnen mit gutem Rath an die Hand zu geben.“ –

„Nein, nein, das ist denn doch der wahre Geist des Evangeliums, was diese Leute belebt!“ rief mein Pfarrer aus, dem bei dem trockenen Vorlesen der Artikel Thränen in’s Auge getreten waren, „Und Ihr,“ wandte er sich der Frau zu, „habt nichts dagegen zu leisten?“

„Nichts,“ erwiderte sie, „als daß die Arbeiterinnen sich alle vierzehn Tage fünfzehn Cent. von ihrem Lohne abziehen lassen müssen, wozu dann die Herren ebensoviel legen; das wächst und wächst, bis …“

„Bravo!“ unterbrach ich sie und gab das Papier zurück, „so ist es doch kein Geschenk, kein Almosen, sondern eine Art von Selbsthülfe, und so macht’s Euren Herren doppelte Ehre. Aber was fangt Ihr denn mit Eurem Kinde an, wenn Ihr wieder in die Fabrik müßt?“

„Dann kommt es für ein mäßiges Kostgeld,“ erwiderte sie, „den Tag über zu einer Frau da draußen, die zu ihren eigenen kleinen immer ein paar fremde Kinder nimmt und ganz gut versorgt, und mit drei Jahren geht’s in die Salle d’asile. So hilft man sich durch, und das schadet auch nichts, wenn man nur absieht, wohin und wohinaus.“

Wir reichten der wackeren Frau die Hand und empfahlen uns.

„Wollten Sie nicht das Haus sehen?“ warf sie ein.

„Ist nicht mehr nöthig,“ antwortete ich, mehr zum Pfarrer gewandt; „wir haben, denk’ ich, sattsam erfahren, wie Alles hier auf den inneren Menschen wirkt, und das ist genug. Kommen Sie!“

Ich faßte ihn am Arme und zog ihn hinaus; mir war, als kennte und liebte ich ihn seit Jahren, und der innige Blick, den er mir zuwarf, sprach eine ganz ähnliche Empfindung aus. Glücklich plaudernd gingen wir nebeneinander bin. Die von concurrirenden Privatleuten gebauten Arbeiter-Wohnungen, die wir auf dem Rückwege sahen und die mit Gärtchen zu achtzehn Franken monatlich nur vermiethet werden, waren uns kein Aergerniß; im Gegentheil zählten wir sie ebenso zu den glücklichen Ergebnissen der ersten Unternehmung, wie, als sie uns bekannt wurden, die Nachahmungen des Wöchnerinnen-Vereins in Frankreich und Deutschland (Gladbach). Ueberdies beschäftigte uns fast ausschließlich der Gedanke an die ungeheure Geldsumme, welche diese Mülhauser Kaufleute hingeben mußten, um das Alles zu ermöglichen.

„Da liegt eben das,“ bemerkte der Pfarrer, „was die Sache zu einer ganz vereinzelten macht. Wo wird man zum zweiten Male bei solchem Reichthum solche Mildthätigkeit, solche Hingebung finden?“

„Ich möchte wissen,“ erwiderte ich, „wie der ganze Plan entstanden und wie groß eigentlich die Opfer sind, welche die Gesellschaft im Ganzen und die jeder einzelne Theilnehmer gebracht hat.“

„Wir müßten uns,“ meinte Jener, „die Statuten und Rechenschaftsberichte zu verschaffen suchen.“

„Das wäre langweilig,“ scheint mir, „und würde wahrscheinlich noch Raum zu fragen genug lassen. Was meinen Sie, wenn wir zu einem der Theilnehmer gingen, den ich so oben hin kenne, und ihn bis auf den Grund ausfragten?“

Nach kurzem Sträuben gegen einen für ihn etwas kühnen Besuch willigte der Freund ein; nicht lange nachher waren wir in der Stadt und schellten an der Thür eines von außen ziemlich unscheinbaren Kaufmannshauses. Eine Magd öffnete. Durch das mit Strohmatten belegte Vorhaus wurden wir in ein kleines, aber prachtvolles Anspruchszimmer geführt; der Hausherr, ein frischblickender, untersetzter Fünfziger, dessen Namen zu nennen ich mich nicht befugt glaube, trat bald darauf ein.

Kaum hatte er den Grund, der uns herführte, vernommen, als er ohne Umstände sagte:

„In diesem Augenblick bin ich nicht frei; für Unsereinen ist nun einmal das oberste Gesetz: die Geschäfte vor allem Andern. Ich bitte aber die Herren, in einer Stunde wiederzukommen, und hoffe ihnen dann Genüge zu leisten.“

Damit gab er mir die Hand, verneigte sich kurz vor meinem Begleiter und bugsirte uns hinaus.

„Der macht’s einfach,“ brummte draußen der Pfarrer mit einem fragenden Blick auf mich.

„Er hat Recht und wir können die Zeit gebrauchen,“ erwiderte ich und zog ihn in das nächste Speisehaus, wo wir uns gründlicher restaurirten, als Frankreich unter Ludwig dem Achtzehnten. Genau nach einer Stunde zogen wir die Klingel wieder. Diesmal empfing uns der Herr selbst an der Thür und führte uns in ein einfaches Cabinet mit Büchergestellen und Kupferstichen an den Wänden. Auf einem runden Tische in der Mitte stand eine Flasche Champagner mit drei Gläsern und ein Kistchen Cigarren nebst einer brennenden Kerze.

„Setzen Sie sich,“ bat er, die Cigarren vor uns hinschiebend und aus der bis zum Knallen des Pfropfens vorbereiteten Flasche einschenkend, „ein leichter Trunk in der Januarfrische kann nicht schaden.“

Wir stießen an, zündeten an, und sich behaglich auf einen Sessel streckend, fragte der Wirth, was wir denn nun gesehen und erfahren.

Wir erzählten um die Wette.

„Gut,“ sagte er, „doch ist Ihnen noch Etwas entgangen. Eine sehr gute Einrichtung sind auch die Volkscurse, die man übrigens auch in Thann, Gebweiler und Markirch hat, demnächst sogar in Paris einführen will und die mehr noch als die Bibliothek zur geistigen Hebung der Arbeiter beitragen. Der beständige persönliche Verkehr mit den dreizehn Professoren, die sich unter Leitung eines Directors zusammengethan haben, ist nicht minder hoch anzuschlagen, als die positiven Kenntnisse, die alltäglich in den neun Sälen der Anstalt erworben werden. Und auch diese sind nicht gering, denn sie umfassen Sprachen, Arithmetik und Zeichnen. Die Arbeiter betheiligen sich zahlreich, obgleich der Unterricht aus Grundsatz nicht ganz umsonst gegeben wird. Jeder Theilnehmer zahlt zwanzig Cent. monatlich pro Curs; für die Zeichenstunde sogar fünfzig Cent. und fürs Englische, weil es kein allgemeines Bedürfniß ist, zwei Franken.

Als ich den Wunsch nach weiteren Zahlen aussprach, nahm er ein Notizbuch von einem der Gestelle und gab mir die folgenden:

Eingeschriebene. Wirkliche Besucher.
Lesen und Schreiben 339 244
Rechnen 237 175
Angewandtes Rechnen 58 48
Französische Sprache 77 55
Linearzeichnen 117 80
Englische Sprache 78 65
Summa 906 667


„Sie sehen,“ fügte er lächelnd hinzu, „an dem Unterschiede zwischen Eingeschriebenen und wirklichen Besuchern, daß auch bei

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 553. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_553.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)