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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Berg und Thal, oft selbst in verlorenen Alphütten, die fleißigen Kinder, Mädchen und Weiber, vom siebenjährigen Kinde bis zur siebenzigjährigen Matrone hinter dem runden, beweglichen Stickrahmen („Maschine“), mit scharfem Blicke die Spinnfäden des Gewebes ermessend, um die zarten Arabesken, Blattgewinde und Bouquets auf den Stoff zu zaubern. Merkwürdig, daß auch Männer, die sonst die Axt und Sense zu führen gewohnt sind, nicht selten zur Winterszeit mitsticken und häufig die Nadel gar geschult zu führen wissen. Die kleinen und die alten Arbeiterinnen besorgen die gröbere, ordinäre Stickerei. Die feine und feinste wird von den gewandtesten Mädchen und Frauen besorgt, und an großen Prachtstücken arbeiten oft drei bis sechs derselben Monate lang mit unausgesetztem Fleiße. Ein Theil der Sticharten ist durch das Dessin vorgeschrieben; die à jour-Arbeit aber ist meist dem Geschmacke der Arbeiterin überlassen und es ist in der That bewunderungswürdig, mit welcher Phantasie und welchem Kunstgeschick diese in unaufhörlicher Abwechselung und den reizendsten Formen angebracht wird.

Junge Mädchen lieben es, mit dem Stickrahmen zur „Spini“ (d. h. zum Spinnbesuche zu einer Freundin zu gehen, und in großen, hellen Stuben finden sich oft ganze Stickgesellschaften zusammen. Da wird reichlich geplaudert, von der letzten oder nächsten „Kilbi“ (Kirchweih) oder dem Markte und Tanze, von einer Leiche oder Hochzeit, und die „Toneli, Sepheli, Mareili“ wissen immer etwas Neues. Oft wird auch hübsch gesungen oder eine alte Geschichte oder Sage, je grauslicher, desto lieber, erzählt, und wenn Abends die „Buben“ am Ofen oder auf demselben sitzen und liegen, so fehlt es nicht leicht an Neckerei und Kurzweil. Der Abend ist übrigens eine schlimme Zeit für diese haarfeine Arbeit, und ohne Beihülfe der zwar augenmörderischen, aber bei dem schlechten Talglichte unentbehrlichen wassergefüllten Glaskugel müsste sie gänzlich eingestellt werden.

Die Stickerinnen genossen – früher mit mehr Recht – den Ruf, daß sie nicht nur schön arbeiten, sondern selbst schön seien; doch ist reine Schönheit nur selten zu finden, wohl aber häufig ein sehr fein geschnittenes Profil, reiche, blonde Haare, helle, lebhafte Augen, von starken Brauen überschattet, schöne Zähne, zarter Teint und eine sehr feine, weiße Hand. Die angestrengte Arbeit veranlaßt oft eine leicht vorgebeugte Haltung, welche zu der gewöhnlichen Mittelgröße und der kurzen Taille der Landestracht nicht gerade gut steht.

Der Tagesverdienst der fleißigen Arbeiterinnen steht mit dem aufgewendeten Eifer und Geschick und dem Ueberreiz und der Schwächung der Sehkraft nicht in günstigem Verhältniß. Für gröbere Arbeit beträgt er blos etwa drei Silbergroschen, für feinere bis sieben und für ganz ausgezeichnete bis zehn oder elf Silbergroschen, während der Verkaufspreis der Waare für reiche Braut- oder Hoftoilette auf fünfhundert bis tausend Franken zu stehen kommt.

Immerhin ist auch der karge Verdienst für dieses geldarme Ländchen von hohem Werthe, und die Stickerinnen klagen eher über Unterbrechung der Beschäftigung, als über die Kleinheit des Erwerbs. Die Anzahl der Arbeiterinnen dürfte auf zweitausend fünfhundert bis zweitausend sechshundert anzuschlagen sein und der jährliche Arbeitsverdienst auf die bedeutende Summe von 350,000 bis 400,000 Franken.

Jede Woche bringen die Factoren die fertige Arbeit, welche sie von der Stickerin in Empfang genommen und unter oft unbilligen Abzügen für kleine Fehler oder Schäden verrechnet haben, dem Handelshause. Die Waare ist noch in einem sehr unansehnlichen Zustande, grau in grau, und erfordert eine äußerst sorgfältige Behandlung, ehe sie in ihrem wahren Werthe und Glanze erscheint. Sie wird nun gewaschen, gebleicht, appretirt und ausgerüstet. Namentlich erfordert der Appret, der nirgends in dieser Vollkommenheit bewirkt wird, wie in den sanct-gallischen und appenzellischen Etablissements, eine äußerst kundige Behandlung, während die Ausrüstung und Verpackung in elegante Schachteln Sache des guten Geschmackes ist. Die feinen und kostbaren Stoffe erleiden bei jenen Manipulationen leicht kleine Beschädigungen durch Rißchen, für deren unbemerkbare Reparatur eigene, äußerst geschickte Arbeiterinnen („Verwiflerinnen“) angestellt sind. Ein Theil der feinen und feinsten Waare aber bleibt in dem rohen Zustande, wie er von der Stickerin kommt, und wird auf gewissen Wegen, die wir hier nicht näher bezeichnen, nach Frankreich geschmuggelt, wo er gebleicht und fertig gemacht und dann als französisches Fabrikat verkauft wird. Für die ausgerüstete Waare sind Deutschland, Italien, Spanien und auch Rußland und Amerika die Hauptabsatzplätze.

Appenzell ist freilich nicht der einzige Bezirk, wo die genannten Handelshäuser ihre Stickerinnen haben, auch im Rheinthal wird eine kleine Quantität feine, mehr aber mittelfeine und billige Arbeit, sowie Grobstickerei in Gardinen und Stückwaare geliefert. Ebenso lassen jene Häuser im Vorarlberg und Bregenzerwald viel Grobstickerei fertigen.

Unsere appenzellische feine Handstickerei hat in neuerer Zeit doppelte, wenn auch nicht gerade gefährliche Concurrenz erhalten. In Sachsen, in Frankreich und in Schottland wird ebenfalls Handstickerei gepflegt, aber diese Industriedistricte bringen es ausschließlich nur zu geringer bis mittelfeiner Waare. Mit bedenklichern Augen sah man das geheimnißvolle und rasche Aufblühen der Maschinenstickerei im eigenen Lande an, die im Stande ist, auf mechanischem Wege außerordentlich billige Arbeit zu liefern, und sich namentlich der südeuropäischen Handelsplätze bemächtigte. Allein so ingeniös auch diese Stickstühle construirt sind und so kunstvolle Prachtstücke sie an die Weltausstellungen geliefert haben, so vermögen sie doch nur in Baudes und Entredeux massenhaft und billig zu arbeiten; für Dessins à disposition und Schnittwaare ist Maschinenstickerei nicht ausführbar. Und so wird denn Appenzell-Innerrhoden nach wie vor, wie die ursprüngliche, so auch die einzige Heimath der hochfeinen Handstickerei bleiben,[1] welche die Bewunderung der eleganten Damenwelt verdient und die edelsten und kunstvollsten Bestandtheile ihrer Toilette liefert. Dabei bleibt es immer interessant und bedeutungsvoll, wie in verschiedenen Theilen des Schweizergebirges so verschiedene specielle Industriezweige gepflegt werden: hier die Stickerei, in Ausserrhoden die Weberei, im Jura die Uhrmacherei und Spitzenklöppelei, im Berner Oberlande die Holzschnitzerei.

Diese Industriezweige haben den unschätzbaren Vorzug, daß sie im eigenen Hause betrieben werden können. Die Arbeiter werden nicht in große Etablissements zusammengepfercht, wo sie so oft körperlich und sittlich versiechen oder als lebendige Ergänzungen todter Maschinen in ewiggleicher Sclavenarbeit verdumpfen. Die Hausindustrie bewahrt dem Arbeiter die Freiheit und Individualität und entreißt ihn nicht dem Familienverbande. Die stickende Mutter pflegt den Säugling in der Wiege, bleibt die Gehülfin ihres Mannes und besorgt unbehindert das einfache Hauswesen. Doch ist auch die Stickindustrie nicht ohne Schattenseite. Das ewige vorgebeugte Sitzen am Rahmen von zarter Jugend auf ist für die kräftige Körperentwickelung nachtheilig. Daher so viele zarte, blasse, früh alternde Gestalten unter den Stickerinnen. Auch überreizt die angestrengte, besonders die nächtliche Feinarbeit die Augen und es bleibt unerklärlich, daß ausgesprochene Kurzsichtigkeit nicht stärker verbreitet ist. Dabei zeigt sich hie und da die unerfreuliche Erscheinung, daß die Töchter des Hauses, welche freilich die einzige Vermittelung bilden, durch die regelmäßig das sonst so seltene baare Gelt in’s Haus fließt, diese ihre Stellung über- und ihre Verpflichtungen unterschätzen, daß sie, sobald sie eines ordentlichen Verdienstes sicher sind, die Familie verlassen und sich anderswo verkostgelden, oder aber gegen Kostgeld im elterlichen Hause bleiben, ihren Verdienst in der Tasche behalten und sich sogar für die Betheiligung an den Hausgeschäften bezahlen lassen. Nur eine bessere sittliche Erziehung wäre im Stande, diesem häßlichen Mißbrauche wirksam entgegenzuarbeiten.

So hätten wir denn flüchtig Umschau gehalten in dem Säntisstock und den kleinen Volksgruppen seiner Anwohner. Wer etwa vom Weißbade, dem reizendsten und heimeligsten Standquartier am Ursprung des Sitterflusses, aus sommerliche Streifzüge in den Schooß dieses wundervollen Gebirges und in die Hütten seiner aufgeweckten und einfachen Leutchen macht, wird sich diese Skizze mit interessanten und genußvollen Anschauungen bereichern.



  1. Es mag vielleicht manche unserer Leser interessiren, zu erfahren, daß gegenwärtig in St. Gallen das Haus „Adolph Näf“ das reichhaltigste Lager für Handstickerei in allen Genres hält und den Bedarf der fremden Höfe für hochfeine Waare vermittelt.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_527.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)