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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Erntefest, freilich vor der Ernte, in dem ein glückliches Volk seinen Jubel laut werden läßt über den Segen seines Klimas und seines Bodens, welcher es zu der beneidenswerthen Stufe von Wohlstand und Civilisation emporgehoben hat, dessen es sich erfreut. Wo rundum weit und breit die Rebe und ihre Pflege im Vorgrunde alles Sinnens und Strebens steht; wo der Wein das Alpha und Omega des Lebens ausmacht; wo jede Naturerscheinung, jeder Wetterwechsel, jede politische Conjunctur zunächst immer auf die Rebe, ihr Gedeihen und ihre Verwerthung bezogen wird; wo auch für den Aermsten der Wein kein unerreichbarer Luxusartikel ist, sondern das tagtägliche Labsal bildet – da kann es eben nicht Wunder nehmen, wenn ein Winzerfest im Laufe der Jahrhunderte zu Verhältnissen anwuchs, die seine jedesmalige Feier zu einem Ereignisse, zu einem der glänzendsten Schauspiele Europas machen, für welches Jahre lang Vorbereitungen getroffen werden, das schon Monate lang vorher die gesammte Bevölkerung in Spannung und Aufregung versetzt. Wohl die meisten meiner Leser haben bereits von diesem großen Winzerfeste oder, wie es offieiell genannt und feierlich proclamirt wird, dem Feste der Bruderschaft der Winzer von Vevey gehört, jenem in unregelmäßigen Zwischenräumen wiederkehrenden heidnischen Bacchus- und Ceresfeste mitten in einem der allerchristlichsten Winkel der Erde.

Die Bruderschaft oder „Abtei“ (abbaye) der Winzer von Vevey verdankt ihren Namen jedenfalls dem Kloster von Haut Crét im Freiburgischen, dessen Mönche im zwölften Jahrhundert die ersten Reben am Nordrande des Genfer Sees pflanzten, auf den Felsen von La Vaux, die jedem Weinkenner süße Erinnerungen oder Hoffnungen wecken. Ursprünglich hatte diese „Abtei“ der Winzer nur die Ueberwachung der Weincultur zum Zwecke. Wer sich besonders auszeichnete durch seine Rebpflege, der erhielt gewisse Preise und Belohnungen, welche alle drei oder vier Jahr in Vevey zur Vertheilung kamen. Dabei waren ländliche Feste mit Aufzügen und Gesängen veranstaltet, und aus diesen bescheidenen Anfängen entwickelte sich nach und nach das imposante Fest, welches 1851 zum letzten Male gefeiert wurde und eben, in den Tagen des 26. und 27. Juli, wieder eine Völkerwanderung über das elegante Vevey ergießt, die wohl zwei und drei Mal die Zahl seiner ständigen Bewohner übersteigen mag. Der Haupttheil dieses Festes ist eine große Procession, die Parade der Winzer, worin sich die heidnische Tradition mit dem christlichen Elemente vermischt, mythologische Allegorien mit mittelalterlichen Tableaux wechseln, der Gott Bacchus noch jetzt unmittelbar dem Schutzpatron des ehemaligen Klosters, dem heiligen Urban, vorauschreitet und hinter dem Gotte der Zunftmeister der Winzer, der sogenannte „Abt“, als der Oberpriester des Bacchus stolzirt. Außerdem kommt auch Ceres als Repräsentantin des Sommers in den Zug, erscheinen Gruppen, welche die nationalen Sitten und Beschäftigungen darstellen, Gruppen von Hirten und Jägern, andere, welche patriotische Erinnerungen verherrlichen, darunter die alte Schweizergarde, und jede der vielen Gruppen mit ihrer besonderen Musik und ihren besonderen Liedern. Zu alledem rüstet man sich seit einem Jahr ohne Unterbrechung. Ein Tanzmeister hat die Pas und Figuren der vor den errichteten Estraden ausgeführten Tänze zu entwerfen und für die Musik sind die besten Künstler des Cantons und der Schweiz in Anspruch genommen, während für die verschiedenen Costüme Summen verausgabt werden, wie sie kein Hoftheater für seine Opern und Ballets in das Budget setzen kann.

Eine interessante culturgeschichtliche Studie würde es abgeben, wollte man die allmähliche Entwickelung des Festes von der einfachen Winzerparade bis zu seinen heutigen complicirten Aufzügen und Aufführungen, die ein Personal von dreizehnhundert Menschen, Männern und Frauen, erfordern, vergleichend betrachten; sehen, wie sich der jedesmalige Charakter der Zeit in den Darstellungen und Costumen des Festes ausprägt, wie namentlich seit 1791 das künstlerische Element desselben in bis dahin unerhörter Weise zur Geltung kam und wie nun jedes der folgenden Feste das vorhergebende an Glanz und Ausdehnung übertraf. Ohne die Localität aber, ohne den Zauber der Landschaft, die sein Schauplatz ist, die, eine der herrlichsten der Erde, Jahr aus Jahr ein einen Ziel- und Sammelpunkt von Touristen aller Culturvölker bildet, wäre das Fest nimmermehr geworden, was es ist. Anderwärts hat der Festplatz meist einzig Bedeutung und Interesse durch das Fest selbst, das sich auf ihm abspielt, hier ist umgekehrt der Festplatz die Hauptsache, hat der Rahmen das Meiste gethan, das Gemälde zu schaffen, welches jetzt Tausende bewundern: ihm, dem Festplatze im weitern Sinne des Wortes, der Gegend, gilt auch unsere heutige Darstellung zunächst; suchen wir uns darum noch etwas mehr in den entzückenden Umgebungen zu orientiren, welche im Augenblick vom Jubel der seltenen Feier erklingen.

Wir stehen auf der letzten Terrasse der von Freiburg an den See hinabführenden Straße, auf dem Abhange des sogenannten Pilgerberges (Mont Pelerin), der, zur Joratkette zählend, sich unmittelbar im Norden über Vevey erhebt. Ungefähr von hier aus, nur etwas tiefer gegen das Thal hinab, ist die Ansicht aufgenommen, die unsere heutige Nummer schmückt. Ist auch der kalte Holzschnitt nicht im Stande, den Duft, den Schmelz, die Farbe, den Hauch des Südens wiederzugeben, welcher das Urbild umfließt, immerhin wird er ahnen lassen, daß wir hier ein wahres Sonntagskind der Schöpfung vor uns haben, ein Ensemble von Größe und Anmuth, wie es in ähnlicher Harmonie die Natur vielleicht kaum noch zwei oder drei Male hervorgebracht hat. Doch wir können uns das Prachtbild in aller Gemächlichkeit beschauen, wir dürfen nur eintreten in dem Hause, an dem wir eben vorüberkommen. Die Belle-Vue zu Chardonne über Vevey ist ein gar renommirter Ort, ein vielbesuchtes Gasthaus und Fremdenasyl, schreiten wir denn durch den freundlichen Garten, in dem es steht mit „Dependenzen und Châlets“, und lassen uns in seiner Veranda nieder bei einem Glase alten Yvorners aus 1854er Gewächs. Da liegt es vor uns, das Panorama, wie es der Zeichner vor sich gehabt hat – ein Ah! der Bewunderung entfährt uns unwillkürlich, und lange sitzen wir schweigend in andächtiger Begeisterung vor dem Landschaftsbilde, das sich vor uns ausspannt. Wer hätte auch Worte, diese Herrlichkeit zu schildern? Begnügen wir uns darum einfach zu verzeichnen, was wir sehen.

Zuerst die Berge am andern Ufer, die gewaltigen Recken, die kühnen, vielgezackten, himmelanstrebenden, wildzerklüfteten, mannigfachst umrissenen, – wir kennen sie schon, es ist dieselbe mächtige Alpengruppe, die wir weiter oben erblickten. Zur Rechten sind’s die Berge des Savoyer Seelands, an sie reihen sich links die Riesen des untern Wallis. Weiter nach links endlich fallen die Waadtländer Alpen jäh ab in den See, oben in unzählige Spitzen und Zinken gespalten, nackt und felsig, am Fuße prangend in einer Ueberfülle mittäglicher Vegetation, mit Kastanienhainen, mit Nußbaumwäldern, mit Rebhängen bekleidet und umgürtet.

Da ist es, wo das wahre Südland der Waadt beginnt, da nimmt der ununterbrochene Kranz von freundlichen Ortschaften seinen Anfang, die, theils an lauschigen Buchten des Sees, theils in schattigen Gründen, theils auf sanften Hügeln gelegen, vom Ausländer gewöhnlich als Montreux zusammengefaßt werden, obschon dies nur eine, wenn auch eine der ersten Perlen der unvergleichlichen Schnur ist. Die Gegend von Montreux bis Vevey ist nichts als ein großes Touristenkarawanserai, die Zuflucht der Brustkranken und Traubencuristen, Hotel fügt sich an Hotel, Pension an Pension, Landsitz an Landsitz. Wir können auf unserem Bilde nicht wahrnehmen, wie wechselreich – accidenté nennt es bezeichnend der Franzose – das Terrain dieser Landschaft ist, wie sich hier eine romantische Schlucht öffnet, in der sich malerische Häuser und Villen eingebettet haben, dort eine Höhe aufbaut, welche ein stattliches Schloß krönt, hier auf einmal inmitten der Weinberge, die ringsum dominiren, ein Wiesenplan sich einschiebt, auf dem eine Meierei oder Musterwirtschaft im echten Schweizerstyle sich ausbreitet, dort ein Kirchdorf das Plateau besetzt, hinüberschauend nach den Alpen des Greyerzer Ländchens wie nach dem Wasser und dem andern Strande, und wie die braunen Sennhütten von den Alpen heruntergrüßen, – der Leser muß es mir eben aufs Wort glauben, wenn ich ihm sage, auch der weitgereiste Wanderer, der vieler Menschen Länder geschaut, hat anderswo schwerlich ein Gleiches gesehen.

Ehe wir in diese Zauberregion gelangen, weiter im Hintergrunde, da wo der See eine tiefe dunkelblaue Bucht in’s Land schneidet, fällt uns, eben von der Abendsonne beschienen, ein schwerfälliges Mauerwerk in’s Auge, das auf dem Wasser zu schwimmen scheint. Es ist Chillon, die alte Burg und Veste Chillon. Wem ist Chillon nicht bekannt, das ehemalige Savoyerschloß, welches, wie eine finstere Legende inmitten eines Kranzes süßer Minnelieder, unheimlich aus der lieblichen Gegend emporragt? Welche furchtbare Geschichte hat dies düstere Wassercastell! Tief unter dem Spiegel des Sees lagen seine Kerker, wo die Gefangenen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 502. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_502.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)