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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Freunde die Hand. Bald fuhren sie dahin, ganz so, wie der Graf es angerathen hatte, und als sie die gefährliche Stelle des Großstaates erreichten, stand der Graf breit und sicher vor dem Perronfenster, während Ludwig in dem gegenüberliegenden Fenster lag und beginnende neue Bauten mit großer Aufmerksamkeit beobachtete. Des Grafen Blicke begegneten inzwischen mit heiterer Sicherheit den spähenden Augen der Polizeidiener, die an dem Wagenzug gemüthlich auf- und niedergingen. Schon hatte es zum zweiten Male geläutet, es schien keine Spur von Gefahr vorhanden und der Graf wippte vor Vergnügen mit dem Fuße. In diesem Augenblicke kam raschen Schrittes ein Herr heran, so, als wenn er eilig das Coupé besteigen wolle, welches der Graf gleichsam in Belagerungszustand hielt, und als er dicht vor demselben stand, fragte er mit artiger Verbeugung und leiser Stimme:

„Herr Doctor Ludwig?“

Der Graf stutzte, antwortete aber in demselben Augenblick:

„Zu dienen!“

„So haben Sie die Güte, mir zu folgen,“ und der höflich Bittende zeigte dem Grafen rasch und heimlich eine gewisse Münze, die derselbe denn auch sofort als das Abzeichen eines Polizeibeamten erkannte.

„Schön!“ antwortete er verbindlich, griff rasch nach den wenigen Reiseeffecten, die neben ihm lagen, und stieg behutsam aus – da ertönte das dritte Zeichen zur Abfahrt, ein Pfiff und der Wagen fuhr dahin. Bald war die Grenze überbraust und Doctor Ludwig drehte sich fröhlich um, ein fröhliches Wort auf den Lippen – er sah sich allein! Er war erstaunt, dann betrübt um den Freund, ärgerlich wegen der gestörten Freude. Doch war es auch ein gewisser Humor, mit dem er sagte: „Hat der Mensch sich schon wieder verspätet! Er ist darin unverbesserlich. Wenn er nur zum Concert wieder da ist, dann will ich schon zufrieden sein.“ Währenddem saß sein Freund neben dem Polizeibeamten in einem Wagen und fuhr dem alten Amthause zu; er lächelte geheimnißvoll, schmunzelte listig und bot seinem Begleiter die feinste Cigarre mit der feinsten Liebenswürdigkeit an.




2.

Als Doctor Ludwig in D. ausstieg, sah er sich noch einmal genau um, es war ja doch nicht unmöglich, daß der Graf aus irgend einem anderen Coupé ausstieg. Plötzlich blieb Ludwigs Blick an einer Frauengestalt haften, die in seiner Nähe stand, gleich ihm einen Erwarteten lebhaft zu suchen schien und mit auf der Brust gekreuzten Armen immer stolzer und verächtlicher auf die Aussteigenden schaute, je länger sie den Erwarteten vermißte und endlich wohl ganz aufgab. Es war eine junge Frau von schlanker Mittelgestalt, kühner Haltung und entschlossener Bewegung. Ihr Anzug war auffallend einfach und schien weit mehr für eine Bergtour als für Stadt und Gesellschaft berechnet, aber er war gediegen und geschmackvoll, sogar vornehm; wenigstens war die ganze Erscheinung vornehm und paßte vollkommen zu der crinolinlosen Kleidung und der ganzen Art, wie sie dieselbe trug. Die Frau hatte große tiefblaue Augen, die fast bedeckt waren von langen Wimpern, ihre rabenschwarzen Brauen stießen über der Nasenwurzel zusammen. Es gab das ihrem Antlitz etwas Finsteres und verrieth eine mächtig zurückgedrängte Leidenschaftlichkeit, wenn sie aber die Augen plötzlich emporschlug und ihre Blicke hinaussandte, dann war es, als ob ein heller Strahl aus schwarzer Wolke hervorglänze. Um ihren Mund lag etwas Scharfes und Spöttisches, was man an solchem Munde sonst nicht leicht gewahrt. Ihre Züge waren fein und regelmäßig, doch streng und blaß. Um ihren Hals ringelten sich volle tiefschwarze Locken.

Doctor Ludwig betrachtete die Frau mit Interesse, fast mit Staunen, und als der Blick ihres Auges ihn traf und einen Moment lang mit eigenthümlicher Forschung auf ihm ruhen blieb, da war es ein nie gekanntes süßes Erschrecken, was ihn durchfuhr. Nun aber glitt jener Blick kühl von ihm ab, und er begegnete demselben Ausdruck stolzer Verachtung, womit die Frau auch die anderen Fremden gemustert hatte. Dann sah er sie mit trotzigem Unwillen sich abwenden und langsam gehen. Er schritt dem Ausgang des Bahnhofes zu. Draußen erblickte er die ihm wohlbekannte, elegante, aber wappenlose Equipage und die ihm ebenfalls bekannte Dienerschaft des Grafen, die ohne Livrée, in einfachem Civil erschien. Er wollte auf den vor dem Wagen stehenden Diener zuschreiten, um ihm das Ausbleiben seines Herrn mitzutheilen, auch wohl die Equipage zur Fahrt in das Hotel Driburg – welches der Graf ihm schon als ihr gemeinschaftliches Absteigequartier bezeichnet hatte – zu benützen, als er jene merkwürdige Frau dem sichtlich sie erwartenden Diener aus kleiner Entfernung ein abwehrendes Zeichen geben sah. Der Diener lüftete den Hut, winkte dem Kutscher zu, sprang hinten auf und fort rollte die Equipage, während die junge Frau auf einem Seitenweg der Stadt zuschritt. Der Doctor sah ihr sinnend nach. Hatte diese Frau über die Equipage und Dienerschaft des Grafen zu gebieten? Gewiß! Hatte sie den Grafen selbst erwartet? Es schien ihm das jetzt außer Zweifel. Aber so allein; so ohne Begleitung eines Dieners, der ihr doch wohl zur Verfügung stand? Seltsam! sollte diese Dame vielleicht die Schwester des Grafen sein? Die Schwester, die er nie gesehen, von der er aber früher viel und oft als von einer ganz besonderen Natur gehört hatte? Aber die war ja weit, weit fort, in Madrid an den –schen Gesandten, den Grafen Timmelskirch, verheirathet. Sie hatte auch mit ihrem Bruder niemals in liebevollem Verkehr gestanden, ja, Ludwig erinnerte sich, wie der Graf ihm einst anvertraut hatte, daß seine adelsstolze Schwester ihn wegen seiner demokratischen Gesinnungen und Handlungen hasse. Später war nie mehr die Rede von ihr gewesen. So war es kaum anzunehmen, daß diese Schwester jetzt plötzlich hier sei, noch weniger, daß sie ihren Bruder an der Eisenbahn erwarte und zwar so ungeduldig, wie der Doctor dies deutlich bemerkt hatte.

Das Alles ging an Ludwig’s Gedanken vorüber, als er dem Hotel Driburg zufuhr. Er war wie träumend in den Wagen des Hotels eingestiegen und wie träumend kam er vor diesem an. Eben war er ausgestiegen, eben wollte er in das Haus eintreten, als er, durch einen besonders tiefen Bückling des Herrn Driburg aufmerksam gemacht, sich umwandte und die rätselhafte Dame von der Eisenbahn vor sich sah. Er konnte eine lebhafte Bewegung freudigen Erstaunens nicht unterdrücken.

„Wer ist diese Dame?“ fragte der Doctor leise, als sie am Wirthe vorüber stolz die Treppe hinaufstieg.

„Gräfin Timmelskirch,“ erwiderte Herr Driburg mit einer gewissen Feierlichkeit.

„Die Schwester des Grafen Bernting?“

„Hochdieselbe.“ Und Herr Driburg eilte „Hochderselben“ nach.

„Also doch, doch! Merkwürdig!“ murmelte Ludwig vor sich hin, indem er langsam einem Kellner nachschritt, der ihn zu einem Zimmer im zweiten Stock führte.




3.

Als Doctor Ludwig in sein Zimmer eingetreten war, lächelte der Kellner mit bescheidener Artigkeit ihm zu und nannte ihn bei seinem Namen.

„Ei, Joseph!“ rief Ludwig, sich erinnernd, ihm freundlich zu, war aber auch betreten, denn er glaubte sich hier nicht erkannt, wollte auch nicht erkannt sein, sondern nach Absprache mit dem Grafen als „Professor Monz“ erscheinen. Joseph gehörte indessen zu den geheimen Anhängern des Doctors und des Grafen, war auch Beider Landsmann, kannte ihre intime Freundschaft zu einander und versprach nun auf Wunsch des Doctors die strengste Discretion. Ludwig wußte, daß er sich darauf verlassen könne. Der Kellner ging und der Doctor sann darüber nach, ob es wohl angemessen sei, sich der Schwester seines Freundes vorzustellen und derselben über ihren Bruder die thunliche Auskunft zu geben. Er stellte sich mannigfache Gründe dafür auf, daß er dies thun müsse. Wieder aber sagte ihm sein demokratischer Stolz, daß sich diese Dame doch eigentlich recht hochmüthig benommen habe. Er wollte daher schließlich so wenig wie möglich mit ihr zu thun haben, war aber doch sehr begierig zu erfahren, warum sie hier sei und ihren gehaßten Bruder so lebhaft erwartet habe. Er sah also mit um so größerer Spannung der Ankunft seines Freundes entgegen, den er mit dem noch vor Beginn des Concerts eintreffenden Bahnzuge erwartete.

Inzwischen schrieb er in das Fremdenbuch: „Professor Monz aus Frankfurt.“

„Wünschen Sie auch ein Billet für das Concert, Herr Doctor?“ fragte Joseph.

„Gewiß, zwei! Das heißt, wenn der Graf kommt,“ und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_498.jpg&oldid=- (Version vom 2.10.2022)