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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

„Es ist nicht anders,“ wimmerte der Stegwirth unter Thränen. „Der arme, arme Toni!“

„Wann ist es denn geschehen?“ fragte Balthasar. „Habt Ihr denn nichts zuvor gemerkt, daß Ihr nicht nach mir geschickt habt?“

„Hast Du Etwas gemerkt,“ lautete die Gegenfrage des Stegwirths, „als Du gestern Nachmittag bei ihm gewesen bist?“

„Nichts von der Welt, aber gar nichts,“ gab der alte Doctor zur Antwort. „Ich habe ihm auch nichts verordnet, gar nichts einnehmen lassen – keinen Tropfen.“ Er warf dabei einen Seitenblick auf Leonhard, welchen dieser wohl verstehen sollte. „Nicht wahr, Stegwirth?“

„Ich weiß in diesem Augenblicke nichts,“ erwiderte der Stegwirth, „als daß der Knabe todt ist und mich ein schreckliches Unglück heimgesucht hat!“ Sich erhebend und Leonhard, der hinter ihm am Heerde saß, anblickend, setzte er rasch hinzu: „Du hier? Jetzt kriegst Du die Brigitta wieder! Jetzt wird sie nicht mehr Nein sagen, Du glückliches Sonntagskind!“

Leonhard verzog keine Miene und blieb stumm.

„Ueber was hat er denn geklagt?“ fragte Balthasar mit Interesse. „Es muß doch Etwas vorgegangen sein, denn es fällt gar so selten vor, daß der Tod kommt und nicht zuvor ein Zeichen giebt!“

„Doch war es so,“ sagte der Stegwirth. „Wir haben nicht eher an’s Sterben gedacht, als bis die Leiche kalt vor unseren Augen lag. Toni war erst unruhig, das ist er aber oft gewesen, schlief aber um Mitternacht fest ein. Gegen zwei Uhr war er wieder erwacht. Seine Mienen waren so verzogen und die Reden so irre, daß mich die Magd zu wecken ging. Als ich gekommen war und das Kind mich sah, wollte es eine Taube. Ich ließ schnell eine aus dem Taubenschlag holen, aber ehe sie gekommen war, hatte Toni den letzten Seufzer gethan. Ich hab’ es nicht geglaubt, ich hab’ es noch lange nicht geglaubt! Ach, Jesus, ach, Jesus!“

„Du kommst gewiß, mich zu holen?“ sagte Balthasar.

„Deshalb komm’ ich,“ erwiderte der Stegwirth. „Komm und fülle mit allen belebenden Mitteln, die Du hast, Deine Taschen, vielleicht ist es ein Starrkrampf – aber nein, nein, das Kind ist todt, der Weißbart hat es gesagt – o, das Kind ist todt und ich wollte, ich wäre es auch!“

Unter diesen Wehklagen stürzte er zur Thür hinaus.

„Das kommt Dir recht,“ flüsterte der alte Balthasar hinausgehend, um dem Stegwirth zu folgen, Leonhard zu. „Es ist, als ob der Teufel diese Nacht Deine bösen Wünsche erhört und dem armen Kleinen an den Leib gegangen wäre!“

„Mag es so sein oder so,“ versetzte Leonhard, sich emporrichtend. „mir ist es gleich. Ich kriege die Brigitta und Du kriegst Dein Geld!“

Der Wagen brauste, während auch Leonhard gleichzeitig heimging, mit derselben Schnelligkeit davon, mit welcher er gekommen war. Aber der Stegwirth hatte seine Pferde umsonst so angestrengt und umsonst den Wunderarzt in’s Haus herbeigeholt. Der Zucker-Toni war todt und blieb todt.




5.

Mariä Himmelfahrt war herangekommen. An diesem Tage bildete die Eröffnung und Ausweihung einer altberühmten, der Mutter Gottes geweihten Kapelle, die in Folge eines Brandes über zehn Jahre lang geschlossen war, ein besonderes Kirchenfest, welches eine mächtige Anziehung auf die Burgsauer und die ganze Umgegend übte. Seit der Vornahme der Wiederherstellung waren die Gemüther auf diesen Act lange gespannt und die Gerüchte wußten immerfort etwas Neues über die Pracht des Hochaltars, über die kunstvollen Schnitzwerke und namentlich über ein riesengroßes Wandgemälde zu erzählen, von welchem letzteren es sogar hieß, es sei so gelungen, daß künftighin nicht einmal ein glaubensloser Städter, sei er Jude oder Protestant, an der Burgsau vorübergehen werde, ohne es in Augenschein genommen zu haben.

Fast in der Mitte der Burgsauer Thalfläche stand auf einer sanften Anhöhe ein Franciscaner-Kloster, ein Jahrhunderte alter Bau von imposantem Umfange in byzantinischem Style. Es hatte einst bessere Tage gesehen, als daselbst vierzig bis fünfzig Mönche gewohnt und bei einem frömmeren Menschenschlage, als der heutige, ein äußerst schwunghaftes Bettelgeschäft betrieben hatten. Gegenwärtig war die Zahl derselben auf vier Conventpater mit einem Guardian an der Spitze und ein paar Laienbrüder zusammengeschrumpft, welche von dem Mutterstift der Landeshauptstadt abhängig waren.

Die ebenerwähnte Kapelle, ein späterer Zubau im Styl der Lorettokirchen, befand sich auf einem wohlgewählten Platze dicht am Kloster und gerade am Eingange zum Kirchhof, welcher, trotz der in neueren Zeiten errichteten Pfarrei im Markt Burgsau, noch immer zur allgemeinen Begräbnißstätte diente.

Dem gegenwärtigen Guardian, einem der modernen Zeit durchaus nicht feindseligen Mönche, unter welchem die Kapelle in ihrem Inneren bis auf die kahlen Mauern ausgebrannt war, gebührte auch das Verdienst, die Wiederherstellung nach seinen eigenen Anordnungen bewerkstelligt und überhaupt ermöglicht zu haben.

Der schönste Tag begünstigte die kirchliche Feier und daher war der Zudrang so groß, daß die colossale Klosterkirche, wo das Hochamt celebrirt und eine lange Predigt gehalten wurde, die Menschenmenge kaum zu fassen vermochte. Als hierauf die Einweihungs-Ceremonie vorgenommen worden war, stand oder kniete natürlich Alles auf freiem Felde draußen, den stechenden Sonnenstrahlen ausgesetzt, während nur ein kleines Häuflein der heiligen Handlung im Innern der Kapelle beiwohnen konnte.

Unter der Mehrzahl derer, welche ihre Andacht da außen verrichten mußten, befand sich auch Balbina mit ihrer Mutter, einer sehr alten, zusammengeknickten Frau, auf deren faltenreichem und bekümmertem Gesichte sich keine Spur mehr zeigte, wie schön und lustig sie auch einst gewesen war. Doch, trotz Schicksalen und Jahren, waren die Züge tiefster Herzensgüte unverlöscht geblieben. Mutter und Tochter lagen nebeneinander auf den Knieen, im Gebete ganz versunken. Ihre ganze Haltung bekundete, daß ihre Andacht das besondere Bedürfniß eines aufgewühlten und Hülfe erflehenden Herzens war.

Die Tochter hielt krampfhaft das Gebetbuch in den Händen, welche von Zeit zu Zeit leise erzitterten und bald darauf heftig zusammenzuckten, und ließ keinen Blick nebenaus schießen, während die Mutter, trotz ihrer gleich eifrigen Andacht, ihre Augen gar oft zum Himmel und auf Balbina richtete, wie wenn sie für diese, nicht für sich Hülfe brauchen und beten würde. Gewiß war auch viel Mutterangst dabei, daß sie die Tochter so oft in’s Auge faßte. Endlich war die Eröffnungsfeier vollbracht und es begann das Ein- und Ausströmen der Neugierigen, von welchen die meisten auf diesen Moment sehnlichst gewartet hatten, um die neue Ausstattung der Kapelle zu besichtigen.

„Wir aber gehen jetzt heim,“ sagte Balbina, deren Aussehen das einer äußerst Zerstreuten war.

„Was fällt Dir ein!“ versetzte die Mutter höchst verwundert. „Wie kannst Du es über das Herz bringen? Und die Kapelle anzusehen, gehört heute zur Andacht obendrein!“

„Du hast Recht,“ sagte Balbina, „aber Du glaubst nicht, wie schrecklich mir die vielen Leute sind!“

„Wir wollen uns nicht drängen, nicht stoßen,“ sagte die alte Frau. „Zu versäumen ist Nichts.“

Sich stumm fügend, folgte erst Balbina der Mutter durch den Menschenknäuel langsam nach, bald aber fing sie sich sehr mannhaft vorzudrängen an, daß die Mutter nahe daran war, sie aus den Augen zu verlieren.

„Balbina!“ ermahnte die Alte, ihre Tochter hinten am Kleide zupfend.

„Warten macht keine Freude,“ erwiderte Balbina ungeduldig. „Ich danke Gott, wenn es vorbei ist.“

Sie hatte es kaum gesagt, als sie sich schon mit einer am Weibe ungewöhnlichen Entschlossenheit durch die dichtgedrängten Menschengestalten hindurcharbeitete. Bald darauf kam sie der Mutter aus dem Gesicht und mußte schon lange vorher in der Kapelle gewesen sein, ehe die alte Frau nur die Thür erreicht hatte. Hier an dem einzigen Eingange war das Gedränge durch das Ein- und Ausströmen der Leute am größten.

„Nicht wahr?“ redete ein alter Bauer sie an. „Da geht es sauer, aber nur Courage, reuen wird es Dich nicht!“

(Fortsetzung folgt.)



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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_452.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2023)