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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Am Sarge eines wahren Republikaners.
Amerikanische Original-Correspondenz der Gartenlaube.
Von Adolph Douai.
New York, Ende April 1865.

Der Tod Abraham Lincoln’s durch die Hand eines Meuchelmörders infolge einer Verschwörung, welche zugleich gegen das Leben aller seiner Cabinetshäupter und des Obergenerals Grant gerichtet war, ist Ihren Lesern aus den Tagesblättern bekannt. Es war ein betäubender Schlag für das ganze Volk. Seit diesem Trauertage des 15. April leben wir in einer so all­gemeinen und tiefgehenden Aufregung; daß die Behauptung gerecht­fertigt ist, die Nation habe eine große Schule durchlaufen, eine unvergeßliche Lehre erhalten, und daß man alle die wichtigen Fol­gen davon noch kaum ermessen kann.

Abraham Lincoln ist als ein Blutzeuge seiner und unserer Sache gestorben. Die dankbare Nachwelt wird Alles vergessen, was ihm zu seinen Lebzeiten Uebles nachgesagt worden ist, und nur sein fleckenloser Ruf, sein gewissenhafter, großherziger Cha­rakter und seine weltgeschichtlichen Handlungen werden in der all­gemeinen Erinnerung fortleben. Wir selbst haben zu denen ge­hört, welche ihn früher oft hart tadelten; allein schon vor seinem Tode und noch mehr seitdem sind Beweisstücke an das Licht ge­kommen; welche ihn glänzender rechtfertigen, als wir jemals für möglich gehalten hätten. Es steht heute schon so ziemlich fest, daß die Welt in ihm einen ihrer größten und besten Männer ver­loren hat, der nur deswegen eine Zeit lang in Unbeliebtheit selbst bei vielen seiner Gesinnungsgenossen fallen konnte, weil er mit seltener Bescheidenheit und Zurückhaltung Manches verhüllte, was zu seinen Gunsten sprach, solange diese Schweigsamkeit durch die gefährliche Lage des Landes geboten schien. So sehr ihm auch alle glänzenden Eigenschaften der gewöhnlichen Sorte „großer Männer“ fehlten, durch welche das Urtheil der Menge so leicht sich bestechen läßt, so gewiß ersetzte er dieselben durch andere, welche ihn hervorragend zu den überaus schweren Pflichten seines Amtes befähigten, besonders durch eine seltene Besonnenheit, eine uner­schütterliche Festigkeit, eine fast völlige Unabhängigkeit der Ent­schließungen, eine genaue Kenntniß der Eigenthümlichkeiten seines Volkes, eine stete Bereitwilligkeit, Alles zu prüfen und das Beste zu behalten, eine unermüdliche Arbeitskraft, eine Reinheit der Sit­ten von fast kindlicher Art, einen gänzlichen Mangel an Hochmuth und Selbstüberhebung bei aller natürlichen Würde in der Vertre­tung eines großen Volkes und einer großen Sache und eine auf­ richtige Achtung vor dem ausgesprochenen Mehrheitswillen. Er war die fleischgewordene Demokratie mit allen ihren Tugenden, aber ohne deren augenfälligste Mängel und Rohheiten. Er war der getreueste Repräsentant des großen amerikanischen Mittelstan­des von angelsächsischer Abstammung mit deiner Gesetzesliebe, sei­ner Abneigung vor Ueberstürzungen bei allem rüstigen Fortschritts­trieb, seinem ruhigen und doch dabei schalkhaften und humoristi­schen Ernste und seiner unbestechlichen Freiheitsliebe. Das erklärt uns seine große Volksbeliebtheit einer- und manche räthselhafte Handlungen seines öffentlichen Lebens andererseits.

Das Vertrauen der unionstreuen Mehrheit des Volkes in ihn, seinen Scharfsinn, seine Tugenden und seine getreue Vertre­tung des amerikanischen Volkswillens war deshalb am Ende sei­ner ersten und beim Beginne seiner zweiten Amtsverwaltung un­begrenzt und ging soweit, daß in der Presse und im Volksmunde der Gedanke sich Bahn brach, man müsse ihm ganz allein ohne Dreinreden des Congresses die Verfügung über alle diejenigen Maßregeln überlassen, welche die sogenannte Reconstruction betref­fen, d. h. die Wiederherstellung der rebellischen Staaten zu ihrer vorigen Stellung innerhalb der Union, die Bestrafung der etwa zu Bestrafenden, die Begnadigung der etwa zu Begnadigenden, die Uebergangszustände, durch welche der unionsfeindliche Geist des Südens in sein Gegentheil gefahrlos umgewandelt werden sollte. Gewiß, ein so großartiger Fall von allgemeinem Vertrauen steht einzig in der Geschichte da, zumal hier, wo er von einem auf seine Selbstbestimmung so eifersüchtigen, freien und einsichtsvollen Volke erwiesen wurde. Vielen unter uns Fremdgebornen wurde es angst und bange bei diesem bedenklichen Vertrauen und bei der fast sicheren Aussicht, daß Präsident Lincoln – ganz gewiß im Sinne der riesigen Volksmehrheit – den unterworfenen Rebellen die großmüthigste Behandlung angedeihen lassen und dadurch dem übermüthigen Junkergeiste des Südens neuen Vorschub leisten werde. Aber ehren nicht diese Versöhnlichkeit und jenes Vertrauen gleich sehr den Präsidenten wie das Volk?

Ein politischer Meuchelmord, an einem solchen Manne be­gangen, und der Versuch desselben, gegen alle seine Verwaltungs­häupter gerichtet, mußten natürlich das Volk tief erschüttern und einen Umschwung in seiner Anschauung hervorrufen. Mit merk­würdigem Einmuth erhob sich das Volk aller Parteien zur lauten Wehklage, zur entrüsteten Verdammung der scheußlichen That und des giftigen Geistes, der sie wie den ganzen Sonderbund hervor­gerufen. Augenblicklich standen, ohne Befehl von oben herab, alle Geschäfte bis auf die unerläßlichsten still, hüllten sich die Bürger in Trauerkleidung und behängten fast ohne Ausnahme durch’s ganze weite Land ihre Wohnungen mit Floren und anderen Ab­zeichen tiefster Trauer. Die Wenigen, welche über den Meuchel­mord zu frohlocken wagten, wurden auf der Stelle niedergeschlagen, oder den Gerichten vorgeführt, wo sie sofort zu längerer Zucht­hausstrafe verurtheilt wurden. Nie, selbst nicht in der unvergeßlichen Zeit nach dem 19. April 1861, war die Nation so einig, so voll des heiligen Unwillens über das große Verbrechen, welches die Sonderbündler an ihr begangen. Daß die Hand, welche nach so langer Schonung endlich die Rebellion niedergeworfen hatte und gleich darauf eine allgemeine Amnestie unterschreiben wollte, welche segnen wollte, die ihr geflucht hatten, daran durch ver­schworne Meuchler gehindert werden sollte – das war der ganzen Nation ein Fingerzeig der Vorsehung, wie wenig so entmenschten Geschöpfen gegenüber Großmuth am Platze sei, welche nur eine Sprache verstehen: die der Peitsche und der unerbittlichen Strenge. „Gerechtigkeit, strenge Gerechtigkeit!“ ist heute der einmüthige Wahl­spruch dieses ganzen Volkes, sie erscheint ihm endlich um so mehr als eine politische und sittliche Nothwendigkeit, je mehr es vorher von Versöhnlichkeit übergesprudelt hatte.

Ich wünschte den Lesern der Gartenlaube, sie hätten Zeugen dieses erhabenen nationalen Aufschwunges im tiefsten Schmerz und in der begeistertsten Einigkeit sein können. Es ist das Größte mit, was man erleben kann, ein ganzes großes, freies Volk in seiner Majestät zu sehen, den Pulsschlag eines freien, nationalen Lebens durch Berührung mit jedem einzelnen Bürger in raschere Bewegung gesetzt zu fühlen und Zehntausende überall, allüberall eine Gesinnung, einen Willen, ein Bewußtsein gemeinsamer Größe und Bestimmung aussprechen zu hören. Ich weiß, solche Begeiste­rung und solche allgemeine tiefe Trauer halten nicht lange an, aber sie belehren außerordentlich Viele und bringen sie auf bessere Wege, die jeder anderen Belehrung unzugänglich waren. Ein solcher Grad des Parteihasses, wie er bis vor Kurzem unter uns herrschte, dürfte nie wieder entbrennen, zumal die Hauptwurzeln des bisherigen Zerwürfnisses durch den Untergang der Sclaverei und des südlichen Junkerthums beseitigt sind.

An Stelle einer Beschreibung der Leichenfeierlichkeiten bei Ein­holung der Ueberreste Abraham Lincoln’s, von der wir hier so­ eben zurückkommen, auf ihrer langen Reise von Washington über Baltimore, Harrisburg, Philadelphia, New-York nach Springfield im Staate Illinois, der ehemaligen Heimath des Verewigten, wo sie beerdigt werden sollen – an Stelle dieser wohl noch nie über­botenen Feierlichkeiten, welche Ihre Leser schon aus den Tages­blättern haben entnehmen können, gestatte ich mir nur einige ein­schlagende Bemerkungen. Eine aufrichtigere, freiwilligere Trauer um einen Dahingeschiedenen in hoher Stellung ist nicht wohl denkbar. Wenn man die Turbulenz hiesiger Volksmassen kennt, so fällt dem Beobachter zunächst die feierliche, ernste Stille dieser Massen bei Abraham Lincoln’s Leiche auf. In den Augen der stärksten Männer sind Thränen zu sehen, den Sängern, welche überall, wo es Gesangvereine giebt, die anlangende Leiche empfangen, stockt die Stimme beim Klagegesang, den Leichenrednern versagt die Rede. Aeußerungen des naivsten und ungeheucheltsten Schmerzes sind allerwärts zu hören, von Keinen aber so rührende

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