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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

um einen Alpenstock, einen derben eschenen Knüttel, fest in das ausgehauene Loch zu bohren. Daran wurde das Seil geknüpft, das nun die erforderliche Länge hatte. Aber neues Hinderniß! Die Finger des Mannes unten waren so starr vor Kälte, daß er sie nicht rühren konnte und sich ganz außer Stande befand, das Tau seiner Frau um den Leib zu schlingen.

„Ich will Dir’s umschlingen,“ hörten wir ihre Stimme unten sagen, „laß Du Dich zuerst hinaufziehen, Joseph, bitte, bitte.“

Mit einer hier sehr wenig angebrachten Galanterie bestand aber der Mann darauf, daß seine bessere Hälfte zuerst gerettet werde, und all’ unser Zureden, unser Drohen und Schelten selbst vermochte nicht den Ritterlichen zu anderem Sinne zu bekehren.

Einem Menschen, der soeben die Nacht in einem Eisschrunde zugebracht hat, kann man nichts ernstlich übel nehmen; so fingen wir denn an, wieder der Reihe nach, Stufen in die Eiswand zu schlagen, auf denen der Jüngste und Leichteste von uns in die Tiefe hinab klimmen sollte. Das gab eine furchtbare Arbeit, die Finger waren uns nachgerade so klamm geworden, daß wir nur mit großen Pausen die Axt handhaben konnten und nahe an zwei Stunden brauchten, ehe wir die fünfundfünfzig Stufen zu Stande hatten.

Den Anblick der Frau vergeß’ ich mein Lebtag nicht mehr! Es war ein blutjunges Ding, kaum siebenzehnjährig, ihr Antlitz aber leichenbleich, fast so weiß wie der Schnee, der ihr beinahe zum Bahrtuch geworden wäre. Blutflecke sprenkelten ihre blauen Lippen, in die sie in der Todesangst der furchtbaren Nacht unwillkürlich gebissen haben mochte. Ihre großen italienischen Augen schienen geblendet und wie gebannt von dem Schneewall, nach dem sie starrten, und selbst jetzt, als endlich die gewisse Rettung da war, konnte sie nur in einen Strom von Thränen ausbrechen und kaum vernehmbar lispeln: „Gerettet, gerettet, gerettet!“

Wir hatten unsere Noth, die Arme das letzte Stück der Eiswand hinauf zu bugsiren. Von Neuem mußte die Axt ihre Schuldigkeit thun und eine Art Vorsprung ausmeißeln, auf dem das Weib ruhen konnte, während zwei der Mönche das Seil bis zu unserem Platze heraufbrachten, um so die Frau vollends in die Höhe zu ziehen.

Viel schwerer noch ward uns die Rettung des Mannes. Seine froststeifen Glieder machten ihn so hülflos wie ein kleines Kind und seine Last nicht leichter. Indeß schließlich hatten wir auch ihn auf sicherem Boden und konnten, nach einer uns selbst reichlich, den Erretteten mit weiser Mäßigkeit administrirten Herzstärkung, unsern Rückmarsch nach dem Kloster antreten, in freudigerer Stimmung, als wir ausgezogen waren. Langsam, sehr langsam kamen wir vorwärts, denn jeder Schritt verursachte den dem Eise Entrissenen Folterpein. Dennoch durften wir ihnen das Gehen nicht erlassen: es war Lebensfrage für sie, daß ihre Glieder in Bewegung kamen und das Blut wieder wärmend durch ihre Leiber pulsirte.

Nur nach und nach, in abgerissenen Brocken brachten wir aus ihnen heraus, wie das Unglück sich zugetragen hatte. Der Abend war noch nicht weit vorgerückt gewesen, als sie von St. Remy nach der Sennhütte aufgebrochen waren, deren Lage sie genau kannten. Kaum aber eine halbe Stunde unterwegs, sahen sie sich in einen Nebel eingehüllt, der ihnen fürder alle Orientirung unmöglich machte. Noch versuchten sie die Richtung zu halten, allein bald wußten sie nicht mehr, wo sie waren. Plötzlich stießen sie wieder auf die Spur eines Weges; sie hielten ihn für den Saumpfad nach dem Kloster und beschlossen, ihm zu folgen. Das Hospiz mußte ja endlich doch kommen, und dort konnten sie behaglich rasten nach allen Beschwerden ihrer Wanderung! Mühsam tappten sie fort auf dem Wege, – der aber führte nicht zur Jochhöhe empor, es war vielmehr der Steig, der sich, im rechten Winkel mit dem anderen, seitwärts gen Osten nach dem Col de Fenêtre hinüberzieht. So hatten sie sich arglos dem tiefen Bergschrunde genähert, den schützender Weise eine hohe Schneeschicht überdeckte. Schon mochten sie eine gute Strecke auf dieser dahin gewandelt sein, ohne Ahnung von der Gefahr, der sie entgegen gingen, als mit jenem furchtbaren Getöse, von dem uns Gletscherfahrer und Gemsjäger als einem der schauerlichsten Eindrücke ihres Lebens erzählen, die Schneelast auseinander barst und sie mit hinabriß in den Abgrund. Die Masse des gebrochenen Schnees ward ihre Rettung, sonst wäre ein grausiger Tod, ein Zerschellen ihrer Glieder an den harten Eis- und Felswänden, ihr unfehlbares Loos gewesen. Zum Glück schienen Beide durch die jähe Katastrophe weder Besinnung noch Geistesgegenwart verloren zu haben; sie sahen ein, daß nur eine unablässige Bewegung ihnen den kalten Tod vom Leibe halten konnte, und so stampften sie Stunde um Stunde unverdrossen, bald mit dem einen, bald mit dem anderen Fuße, die Erde, da sie im Dunkel der Nacht den Fleck, wo sie ihre Rutschpartie gelandet hatte, nicht zu wechseln wagten.

Endlich aber ging ihnen die Kraft aus. Inzwischen dämmerte der Morgen herauf, und sein graues kaltes Licht zeigte ihnen erst die volle Summe des Elends, das über sie verhängt war. Keine Möglichkeit des Entkommens, nirgends eine Aussicht auf Hülfe! Ohne Aufhören rieselte der Schnee vom Himmel, sie wußten nur zu gut, daß er ihre Spur verwischte, – wie sollte man sie finden? „Nun bedeckt mich mein Grabtuch,“ jammerte der Mann und warf sich mit wildem Schmerzruf zu Boden, wo er in dumpfer Verzweiflung liegen blieb. Zwei Stunden später, und seine Hände und Füße waren schon steif vor Kälte.

Es hatte uns Mühe gekostet, ehe wir ihnen diese Geschichte entlockten, immer und immer versagte ihnen die Sprache wieder in der Erinnerung an die durchlebte Schreckensnacht. Rührend aber war es, wie Jedes der Beiden den Muth, die Geistesgegenwart, die Standhaftigkeit des Anderen rühmte und selbst der schwache, kopflose, verzagende Theil gewesen sein wollte.

„Ohne ihn wäre ich nicht mehr,“ flüsterte das junge Weib, und schaute mit einem Blicke innigster Liebe den Gatten an.

„Nein, sie ist’s, meine Marietta, der wir das Leben verdanken,“ betheuerte der Mann mit matter Stimme. Erst zwei Tage zuvor war das Paar in der Kirche von Gressonay St. Jean verbunden worden und eben auf seiner Hochzeitsreise nach Freiburg in der Schweiz begriffen, wo es in einer großen Parquetmanufactur Arbeit zu finden hoffte.

Der saure Transport nahte seinem Ende; wenig Schritte vor uns erhob sich das Hospiz in den jetzt fast ganz klar gewordenen Himmel. Mit einem Male stieß die Frau, die sich auf dem Wege daher überaus tapfer erwiesen hatte, einen schrillen Schrei aus, und ehe wir sie auffangen konnten, sank sie bewußtlos nieder. Im ersten Moment fand ich keine Erklärung für diese unerwartete Episode, da fiel mein Blick auf das kleine Steinhaus mit dem Gitter uns gegenüber; jetzt wußte ich, was die Arme zusammenbrechen ließ. Wir waren eben bei jener furchtbaren Morgue vorübergezogen, in denen die Leichen verunglückter Bernhardsgänger aufbewahrt werden, deren Identität nicht hat ausgemittelt werden können, oder die Niemand reclamirt hat. Die Dünne der Luft schützt sie bekanntlich vor der Verwesung, und die grausige Gesellschaft in dem Häuschen, worin sie zum Theil schon seit vielen Jahren weilt, sieht aus, als habe sie eben erst der Tod ereilt. Wie an die Wand gelehnt stehen sie, die gespenstischen Gestalten, darunter eine – die eines Weibes mit einem Kinde im Arme – welche vor allen frappirt. Nicht blos die Züge, auch der Ausdruck ihres Gesichts, in dem sich die ganze unendliche Todesangst malt, sind noch unberührt geblieben von der zerstörenden Zeit, – ein Bild, bei dessen Anschauen der Nervenstärkste sich des Schauders nicht erwehren kann. Für unsere kaum dem Tode Entronnene war der Anblick zu viel gewesen; es mochte ihr vor die Seele getreten sein, wie leicht auch ihr ein Platz in dieser entsetzlichen Todtenkammer hätte beschieden sein können.

Wir trugen die Ohnmächtige in’s Kloster, und bald schlug sie die Augen wieder auf. Schon am andern Morgen aber fühlten sich Beide wieder kräftig genug, ihre so furchtbar unterbrochene Flitterreise fortsetzen zu können. Es war eine ergreifende Scene, als das Paar von seinen Rettern Abschied nahm, die guten Mönche schüttelten indeß traurig den Kopf, wie die Hand des Mannes in den ihren lag.

„Der arme Bursche wird Zeit seines Lebens ein Andenken davon tragen an seine Nacht im Gletscherspalte,“ sprach Pater Christoph, während er den nordwärts hinab Wandernden nachschaute; „seine rechte Hand wird kaum zu retten sein. Gebe Gott, daß meine Diagnose falsch ist; wenn man jedoch so lange auf dem Berge hier haust wie ich und so manchen Erstarrten unter den Händen gehabt und manches erfrorene Glied zu Gesicht bekommen hat, da wird der Blick sicher in derlei Dingen, kommen Sie aber, meine Hermen, es läutet zum Frühmahle.“ –

Am nächsten Tag schied auch ich vom Hospiz. Es ging dem Süden zu; – ich hatte genug der Alpen im Winterkleide.



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