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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)


Avenue, deren Granitpflaster unter den Hufen der Rosse Funken stob: da öffnete sich manches Fenster mit neugierigen nächtlichen Damengestalten; die Cavalerie-Piquets an den Straßenecken machten erschreckt Platz; die Senatoren, Congreßmänner, Generale und Lieferanten, welche in zahlreichen Gruppen auf den Veranden der Gasthöfe standen, rissen verduzt ihre schon halb benebelten Augen auf und Einer raunte es dem Anderen zu:„Das ist der Blenker mit seinem Stab.“

A. Sch-e





Die Malerin der Grazien.


In der Kirche des Dorfes Schwarzenberg, das mit seinen stattlichen Häusern und Gehöften in dem schönen Bregenzer Walde liegt, arbeitete der bischöfliche Hofmaler Kaufmann aus Chur auf hohem Holzgerüst an der Ausschmückung der heiligen Räume. Mit besonderer Liebe widmete sich der fleißige Künstler diesem Werk, da er selbst hier geboren war und unter den Bewohnern des Thals noch viele liebe Verwandte zählte. Hauptsächlich wohl aus diesem Grunde hatte er seine siebenzehnjährige Tochter Angelica mitgebracht, die ihm fleißig zur Seite stand und jetzt mit ihm um die Wette an den Fresken der Kirche malte. In frühester Jugend schon hatte das liebliche Kind ein hervorragendes Talent und den heiligsten Eifer für die Kunst gezeigt, welcher durch den Anblick einer großartigen Natur und den öfteren Aufenthalt an den bezaubernden Ufern des Comersees genährt worden war. Der Anblick jener entzückenden, südlichen Gegenden mit ihren romantischen Villen und herrlichen Marmorbildern hatte in ihrer Brust den Schönheitssinn zu einer Zeit geweckt, wo Unnatur und Geschmacklosigkeit leider nur zu sehr vorherrschten. Mit sorgsamer Liebe leitete der verständige Vater das so reich begabte Mädchen, welches auch für Musik bedeutende Anlagen zeigte und durch den Liebreiz der ganzen Erscheinung Jedermann fesselte und für sich einnahm. Holde Anmuth umschwebte die feine, schlanke Gestalt und in den zarten, sinnigen Zügen offenbarte sich der geniale Künstlergeist neben bescheidener Weiblichkeit. In Mailand, wohin sich ihr Vater später begab, erhielt sie durch ihn und das Studium der großen lombardischen Meister ihre künstlerische Ausbildung; vorzugsweise übten die Schöpfungen des unsterblichen Leonardo da Vinci einen großen Einfluß auf ihre Entwickelung aus und bestimmten zum großen Theil ihre spätere Richtung. Vor Allen aber waren die Natur und die Antike ihre Lehrerinnen und bildeten sie zur „Malerin der Grazien“.

In diesem Augenblick malte Angelica mit ihrem Vater an den Köpfen der Apostel, welche noch heute die Dorfkirche zu Schwarzenberg schmücken. Sie war dabei so eifrig, daß sie kaum den Untergang der Sonne bemerkte, welche mit ihren scheidenden Strahlen das liebliche Mädchen vergoldete, so daß es, hoch über der Erde schwebend und vom goldenen Licht verklärt, selbst einem Heiligenbilde in seiner unbewußten Schönheit glich. Vom Thurme läuteten die Glocken zum Feierabend: unwillkürlich ließ Angelica den Pinsel sinken und faltete die Hände zum frommen Gebet. Durch die offene Kirchthür blickten die hohen Berge mit ihren in Purpur, Gold und Violet schimmernden Spitzen, die grünen Matten des fruchtbaren Thals und der stille Wald berein. Rings herrschte das tiefste Schweigen, nur aus der Ferne tönte das Gemurmel des Baches wie eine Geisterstimme und klapperte die Mühle im tiefen Grund. Es war ein Bild des tiefsten Friedens, der heiligsten Ruhe.

„Ist es nicht schön hier?“ fragte der Vater die von dem Schauspiel ergriffene Tochter.

„O, wunderbar!“ entgegnete Angelica.

„Hier bin ich geboren, hier möchte ich sterben,“ sagte er und auf die Gräber des nahen Friedhofs deutend, „hier bei den Meinigen ruhen.“

Auch in Angelica’s Seele fanden die Worte des Vaters einen sympathischen Widerhall. Obgleich sie die große Welt noch wenig oder gar nicht kannte, fühlte sie doch in diesem Augenblick gleichsam eine Ahnung der Kämpfe und Leiden, die sie später erwarteten. Sie schwankte, ob sie nicht diesen Frieden in dem abgeschiedenen Thal den Stürmen auf dem bewegten Meer des Lebens vorziehen sollte. Noch bestärkt wurde sie in diesem Gedanken durch die Liebe, welche ihr hier von Seiten ihrer Verwandten und sämmtlicher Bewohner des Dorfes entgegenkam. Sie wurde im eigentlichen Sinne auf Händen getragen, und als sie jetzt an dem Arm ihres Vaters aus der Kirche schritt, sah sie sich von Freunden und Gespielinnen umringt, die mit einer Mischung von Vertraulichkeit und Bewunderung zu ihr emporblickten und sie gleichsam in einem improvisirten Triumphzug bis zu ihrer Wohnung durch das Dorf geleiteten. Junge Burschen und Mädchen, stolz auf die Verwandtschaft und Freundschaft mit der Künstlerin, brachten ihr Blumen und Kränze, liebliche Kinder reichten ihr die mit duftigen Waldbeeren gefüllten zierlichen Körbchen und die älteren Leute auf dem Wege grüßten sie freundlich und drückten ihr die Hand. Manch wackerer und wohlhabender Mann blickte bedeutsam der schönen Jungfrau nach und wünschte sie für immer an das Thal zu fesseln, doch eine gewisse Scheu vor der „Malerin“ verschloß den Mund. Aus jedem Gesicht konnte sie den Wunsch lesen: „Bleibe bei uns, verlasse uns nicht wieder!“

Aber mächtiger als die Bande des Blutes und der Freundschaft war die Liebe Angelica’s zu ihrer Kunst, die Sehnsucht nach dem ihr vorschwebenden Ideal. Sobald die Kirche vollendet war, nahm sie Abschied von ihren Verwandten, von den ihr so lieb gewordenen Bewohnern des Bregenzer Waldes, den sie erst nach langer, langer Zeit wieder sehen sollte. Sie verließ das stille Dorf und wandte sich zunächst nach Florenz und später nach Rom, wo die schöne, blühende Jungfrau bald durch ihr Talent und ihre Reize die größte Aufmerksamkeit und Bewunderung erregte. Zu kurzer Zeit wurde ihr bescheidenes Atelier der Mittelpunkt für die Kunstfreunde und die vornehmen Fremden, welche in der Siebenhügelstadt verweilten. Reiche Engländer, Schweden und Russen überhäuften sie mit einträglichen Bestellungen und Aufträgen. Römische Nobili und englische Lords huldigten der Schönheit und dem Talent Angelica’s, aber sie zog den Umgang mit Künstlern und Gelehrten den reizenden Verlockungen der Gesellschaft vor und bewahrte auf der Höhe ihres Glückes den bescheidenen Sinn der einfachen „Wäldlerin“.

Ihr liebster Umgang war der berühmte Winckelmann, der, gleich ihr, selbst von der glühendsten Liebe zur Kunst erfüllt, durch seine classischen Schriften, wie Lessing durch seinen „Laokoon“, eine neue Epoche des Geschmacks und der ästhetischen Kunstauffassung herbeigeführt hatte. Mit leuchtenden Augen saß Angelica zu den Füßen des beredten Meisters und lauschte seinen genialen Offenbarungen, wenn er mit bewunderungswürdigem Scharfblick und hinreißendem Enthusiasmus ihr den Geist des Alterthums erschloß und die ideale Schönheit der Antike an den bedeutendsten Werken der griechischen Meister nachwies. Oefters besuchte sie in seiner Begleitung die Ruinen Roms, das mächtige Colosseum und das Pantheon, oder die reichen Sammlungen, wo sie mit ihm anbetend vor dem Apollo von Belvedere, der Ludovisischen Juno, den Göttern und Heroen einer schöneren Welt stand, die sie mit ihren Farben wiederzubeleben suchte. Nach solchen Anregungen eilte sie an ihre Staffelei und schuf die berühmten Bilder der begeisterten „Sappho“, der stolzen „Sophonisbe“ und die sterbende „Alceste“, welche noch heute unsere Bewunderung finden und verdienen.

Schön und berühmt, ausgezeichnet durch Talent und Anmuth, vereint und geschätzt von den Besten ihrer Zeit, schien Angelica in der That beneidenswerth vor Tausenden. Das Glück lächelte seinem Liebling und schüttete sein Füllhorn über die holde Künstlerin in verschwenderischer Fülle aus. Aber auf der höchsten Stufe ihres Daseins angelangt, sollte auch sie den Schmerz des Lebens kennen lernen, der keinem bedeutenden Sterblichen erspart wird. Angelica hatte in Rom die Bekanntschaft der angesehenen Lady Vervort aus London gemacht und an ihr eine einflußreiche Freundin und Beschützerin gefunden. Vielfach von ihr aufgefordert, mit ihr nach England zu gehen, hatte sie jede derartige Einladung bisher abgelehnt, um sich nicht von ihrer Familie zu trennen, obgleich ihrer, wie sie wußte, in London ein glänzender Empfang wartete. Erst als ihr Lady Vervort den ehrenvollen Auftrag überbrachte, die königliche Familie zu malen, entschloß sie sich, in Begleitung derselben die immer wieder aufgeschobene Reise anzutreten. Trotzdem die ihr in London zu Theil gewordene Aufnahme

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_238.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)