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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

weiße Spritzwellen über Bord; endlich lag das Riff hinter mir, und nun stieg in der Ferne in Südwest ein Felseneiland weiß und gespenstisch aus den blauen Fluthen des Meeres, mit Mauerwerk und Zinnen gekrönt und von Wartthürmen überragt, vor mir auf. Bald konnte ich drei Inselgruppen, welche durch Dämme mit einander verbunden schienen, unterscheiden; auf der mittleren erbob sich ein Schloß in mittelalterlichen Contouren. Weithin links stieg ein neues Felseneiland in zackigen Formen auf, nach Süden hin tauchte der Blick in eine unendliche blaue Ferne – in das Meer, welches Europa von Afrika trennt. Das Boot hielt jetzt den geraden Cours auf die mittlere Inselgruppe. Der Schiffer, der das Kreuz der Ehrenlegion am rothen Bande im Knopfloch trug, welches er sich als Capitain eines Transportschiffes im Krimfeldzuge erworben hatte, wie er mir erzählte, zeigte mit der Hand auf das weiße Felseneiland, und sagte: „Schloß If!

„Und links dort die zackige Felsengruppe in der Ferne?“

„Die Insel Tribulon. Sie erinnern sich, mein Herr, es ist die Insel, an der Alexander Dumas Edmond d’Antès schwimmend landen ließ, als er statt des todten Abbé Faria in dem Sack ins Meer geworfen wurde.“

„Ich erinnere mich. Aber was ist Wahres an dem Roman?“

„Edmond d’Antès brachte vierzehn Jahre in einem entsetzlichen Kerker im Schlosse If zu, der Abbé Faria saß dort in einem ganz ähnlichen Kerker sechszehn Jahre, bis er wahnsinnig im Kerker gestorben ist. Edmond d’Antès und Faria waren beide politische Gefangene, der Erstere Bonapartist, der Andere träumte von dem Königreich Italien, welches heute zur Wahrheit geworden ist. Edmond d’Antès wurde nach vierzehn Jahren frei gelassen. Nur der Monte-Christo, in den Dumas ihn später verwandelt hat, ist ein Phantasiebild des großen Romanschriftstellers. Alles Andere ist wahr. Sie werden ja die Kerker sehen.“

„Und die eiserne Maske, und Philipp Egalité, der Herzog von Orleans, der Pater des Bürgerkönigs – und Graf Mirabeau und die Juniinsurgenten?“

„Sie waren sämmtlich nach einander dort oben eingeschlossen; die eiserne Maske drei Monate, der Herzog von Orleans sechs Monate, Graf Mirabeau zwei Jahre und fünfhundert Juniinsurgenten fünf Jahre. Sie werden die Kerker alle dort oben sehen.“

Währenddem waren wir dem fürchterlichen Schlosse ganz nahe gekommen. Der Schiffer reffte das Segel ein und führte mit dem Ruder das Boot um einen Felsenvorsprung herum in die kleine Bucht, welche die Insel Ratonneau und das Eiland bildet, auf dem sich Schloß If erhebt. Noch einige Minuten, und wir hielten an einer Felsenplatte, die als Landungsplatz dient.

Ein in den Felsen gehauener Stufenweg führte in vielen Windungen zu dem kleinen Plateau hinauf, welches sich einige hundert Fuß über den Spiegel des Meeres erhebt. In der Mitte des Plateaus steht das Schloß, quadratförmig gebaut, von zwei dicken Wartthürmen in der Fronte flankirt, von einem dritten höheren Wartthurm überragt, rings von einem tiefen Graben umgeben, über den eine hölzerne, gebrechliche Zugbrücke führt. Jeder der beiden Thürme hat ein kleines Fenster, mit Eisenstäben vergittert. Aus den Fenstern blickte die eiserne Maske und Philipp Egalité auf die malerischen Höhenzüge, welche die Südküste der Provence umsäumen; der Eine, bis man ihn in die Bastille führte, um dort zu sterben, der Andere, bis man ihm auf dem Revolutionsplatze in Paris den Kopf abschlug. Welche Erinnerungen kleben an diesen Mauern, die mich jetzt so düster und so altersgrau anblicken! Schreckliches Gefängniß! Die grausamen und despotischen Bourbonen, die große Revolution, welche das ganze alte Europa aber den Haufen warf, Ludwig der Achtzehnte, der in der Verbannung nichts gelernt und nichts vergessen hatte, und die Bourgeoisie der Februarrepublik haben dort Alle nacheinander ihre fürchterlichen Urtel vollstreckt.

Ein altes Mütterchen, die Frau des Castellans, führte mich über die schwankende Zugbrücke, und durch ein gewölbtes Thor traten wir in einen kleinen viereckigen Hof. Ich stand im Hofe des Schloßes If.

Gerade vor mir erhob sich der hohe Thurm, den ich schon weit aus der Ferne erblickt hatte. Rechts und links und vor mir führten gewölbte Thüren in die untern Räume des Schlosses; in der halben Höhe der Mauer lief eine Galerie, von der man die oberen Räume des Schlosses betrat; zu der Galerie stieg man auf einer gewundenen Eisentreppe hinauf. Von oben blickte in den düstern Hof der blaue, sonnige Frühlingshimmel hinein.

„Ich werde Sie nun zuerst in den Kerker von Edmond d’Antès führen, mein Herr,“ näselte das Mütterchen, „oder des Grafen Monte-Christo; er saß dort vierzehn Jahre.“

Und sie schloß eine schwere Holzthür in der Mauer an der linken Seite des Hofes auf. Wir traten in einen gewölbten, kellerartigen Raum, der eine Länge von sechszehn Schritt und eine Breite von fünf Schritten hatte. Das Licht fiel durch ein kleines, eisenvergittertes Fenster hinein. Oder nein, es war kein Licht, es waren einige schwache Lichtstrahlen, bei deren Schimmer ich das alte runzlige Gesicht des Mütterchens nicht erkennen konnte. Eine feuchte Luft wehte mich an. „Und hier saß wirklich Edmond d’Antès vierzehn Jahre?“ sagte ich schaudernd. „Ein politischer Gefangener, dem man niemals einen Proceß gemacht hat, der nur bonapartistischer Sympathien verdächtig war, weil er in Marseille einige Briefe übergeben hatte, deren Inhalt er vielleicht gar nicht kannte! Und diese Grausamkeit verübte ein Bourbon, nachdem er fast fünfundzwanzig Jahre das Brod des Exils gegessen hatte! Diese Race ist doch unverbesserlich!“

„Nur während des Tages, mein Herr, nur während des Tages,“ sagte das Mütterchen. „Sollen gleich sehen, wo er des Nachts war.“

Dann zündete sie mit einem Schwefelholz ein Stümpfchen Talglicht an und schloß eine kleine Thür auf, welche in der Mauer befindlich war und die ich nicht bemerkt hatte. Gebückten Hauptes trat ich durch die Thür in ein ganz dunkles Loch. Ich fühlte mit den Händen die Mauer und maß das ganze dunkle Loch mit den Schritten, bis ich wieder an die Mauer stieß. Das Loch hatte eine Breite von zwei und eine Länge von vier Schritten. Mit dem Kopfe stieß ich an die Decke. Ich konnte nur gebückt stehen.

„Hier brachte Edmond d’Antès vierzehn Jahre alle Nächte zu,“ sagte die alte Frau; „während des Tages ließ man ihn in das große Gefängniß.“

Ich schauderte. Das dunkle Loch erschien mir wie ein schwarzer Sarg. Alle schreckliche Stunden, welche Dumas in seinem Roman aus dem Kerkerleben des Unglücklicken schildert, stiegen vor mir auf, wie schwarze Gespenster. Nein, der geistvolle Romanschriftsteller hat den Kerker Monte-Christo’s noch nicht schrecklich genug geschildert! Schaudernd trat ich aus dem dunkeln Loche. Das Stück Himmel über dem düstern Gefängnißhofe erschien mir jetzt noch einmal so sonnig und so blau, wie vorher. Ich athmete wieder auf. Balsamisch, wie der Odem des Himmels, wehte mich die Frühlingsluft an. Sie trug auf ihren Schwingen den Duft der Veilchen, der ersten und lieblichsten Frühlingsblumen.

Die alte Frau mit dem Schlüsselbunde stand wieder neben mir. Sie hatte den Kerker Monte-Christo’s von Neuem verschlossen. „Nun sollen Sie den Kerker des Abbé Faria sehen,“ sagte sie mit schwacher, zitternder Stimme. Dann trippelte sie über den Hof und schritt durch die Thür, welche dem Eingangsthore gerade gegenüber liegt. Ich folgte ihr und betrat einen ziemlich großen, halbdunkeln, kellerartig gewölbten Raum. Aus dem Raume führte eine Thür in einen andern Kerker. Es war ganz dunkel. Das alte Mütterchen zündete mit dem Schwefelholz von Neuem ihr Talgstümpfchen an. Ich blickte mich um. Nackte Wände, welche einen Raum von ungefähr acht Schritt Breite und Länge umschlossen. Im Hintergrunde des Kerkers war eine wallförmige Erhöhung in der ganzen Breite der Mauer.

„Dies ist die Wölbung des Kerkers, in dem Monte-Christo schlief“, sagte die Frau. „Durch dies Gewölbe ist der Abbé durchgebrochen, Sie wissen?“

„Ja, ja, ich weiß,“ sagte ich. Ich hatte die Schilderung Dumas’, worin der Abbé einen Gang durch die Mauer in den Kerker Edmond d’Antès’ führt, erst kürzlich gelesen. „Und der Abbé?“ fragte ich.

„Er ist nach sechszehn Jahren in diesem Kerker gestorben..“

„Ließ man ihn nie heraus? Konnte er nicht den vorderen Raum betreten, wie Edmond d’Antès?“

„Nein, er war ja wahnsinnig.“ –

War es die Tradition aus dem Dumas’schen Roman, welche sich in dem Kopfe der Alten festgesetzt hatte, oder war der Abbé Faria wirklich wahnsinnig gewesen? Mußte sein Andenken noch

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