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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Aus den Erinnerungen eines Gefängnißinspectors.
2. Vor dem Hause und in dem Hause.

Die Zuführung eines Gefangenen durch Polizei-Beamte, wenn dies namentlich zu einer Zeit geschieht, zu welcher die Straßen ungewöhnlich belebt sind, erregt stets ein gewisses Aufsehen und bringt regelmäßig eine Anzahl Menschen bis vor die Thür des Gefangnenhauses. Ist der Gefangene in das Haus eingetreten, die Thür hinter ihm geschlossen, mithin von dem Unglücklichen nichts mehr zu sehen, so ist die Aufgabe der freiwilligen Begleiter erfüllt, sie gehen meist in Gruppen auseinander und im Fortgehen unterhalten sie sich von der Vergangenheit des Eingeschlossenen.

Es ist das genau ebenso wie bei dem Hinaustragen eines Verstorbenen auf den Friedhof. Das Einsenken des Sarges in die Gruft und die ersten Schaufeln Erde, welche auf denselben hinabpoltern, treiben gleichmäßig Leidtragende und müßige Zuschauer von der Gruft hinweg. Der Verstorbene mag Gatten und Kinder, Eltern und Geschwister und liebe, theuere Freunde hinterlassen haben, sie Alle gehen fort, sie warten nicht einmal so lange, bis die Gruft vollständig geschlossen ist, sie nehmen ebenfalls nur das Andenken an die Vergangenheit mit hinweg.

In der Regel ist die Einschließung in das Gefangnenhaus auch wirklich nichts anderes, als ein Zu-Grabe-Tragen: die unmittelbare Folge davon ist der bürgerliche Tod, von welchem die Freisprechung durch den Gerichtshof nicht allein wieder auferwecken kann.

Aus einer langjährigen Amtirung ist mir nur ein Fall erinnerlich, in welchem nach der Einschließung des Gefangenen noch ein Begleiter zurückgeblieben war, und zwar unter Umständen, welche diesen Ausnahmefall noch besonders interessant machen dürften.

Ein Fälscher wurde mir an einem Wochenmarkttage kurz nach elf Uhr durch zwei Polizei-Beamte eingeliefert. Die Begleitung, hauptsächlich in Kindern und Frauen bestehend, war massenhaft und erzeugte in der allerdings nicht sehr breiten Straße, welche zu dem Gefangnenhause führte, ein arges Gedränge. Ich schloß daraus auf die Einlieferung eines nicht gewöhnlichen Verbrechers und wurde in dieser Annahme noch mehr dadurch bestärkt, daß die Hände des Gefangenen gefesselt waren, weil dies in der Regel nur dann geschah, wenn Widerstand geleistet oder die Flucht versucht worden war.

In dem Moment, in welchem ich die Thür geöffnet hatte und der Gefangene im Begriff war, in das Haus einzutreten, hörte ich draußen, aus der Menge heraus, ein lautes Aufschreien. Dies Schreien war ganz eigenthümlich, es drückte eine unendliche Fülle von Schmerz aus und mußte aus der tiefsten Tiefe des Herzens kommen, denn es drang durch Mark und Bein. Auch der Gefangene hatte es vernommen, er zeigte sich unmittelbar darauf in unbeschreiblicher Weise erschüttert. Der Fuß, welcher bereits hochgehoben war und über die Schwelle hinweg in das Haus hineinreichte, wurde hastig zurückgezogen, der Kopf, bis dahin tief gesenkt, wendete sich zurück, nach dem Orte hin, woher der Schrei gekommen war, und die gefesselten Hände fuhren in die Höhe und zuckten und zerrten mit krankhafter Gewalt an der Fessel, als ob sie dieselbe mit einem Ruck zerreißen wollten. Die Anstrengungen waren jedoch nutzlos, die Fessel hielt den Druck aus, sie zerriß nicht, sie vermehrte nur die Schmerzen, indem sie sich fester um die Gelenke der beiden Hände zusammenzog. Der Schmerz mußte heftig sein, denn der Gefangene biß die Zähne fest zusammen, die Hände fielen auch gleichzeitig schlaff herab und der Kopf nicht eben sanft gegen die Thür, wo er lehnen blieb. Kaum war diese Stellung eingenommen, so stürzte aus dem Menschenknäuel heraus ein etwa zwölfjähriger Knabe, welcher unter dem einen Arme eine große Schiefertafel, eine Bibel und einige andere Bücher trug und in der anderen Hand seine Mütze hielt. Der kleine Kerl mußte schnell gelaufen sein, er keuchte und stieß ununterbrochen unarticulirte, unverständliche Laute aus. Vor der Thür schrie er aber zwei Mal ganz vernehmlich: „Vater! Vater!“ Dann stürzte er zu den Füßen des Gefangenen, wobei er Schiefertafel und Bücher verlor; seine Arme streckten sich aus, sie umschlangen die Kniee des Mannes und hielten diese fest.

Der Gefangene ließ das Alles geschehen; er sagte nichts, er rührte sich auch nicht, der Kopf blieb an der Thür lehnen, die Hände schlaff herabhängen; ich bemerkte nur, daß er den Mund weit geöffnet hatte, daß seine Lungen furchtbar arbeiteten und daß er viel Luft verbrauchte, um nicht zu ersticken. In der Handlung des Kindes offenbarte sich Liebe und Schmerz zugleich. Und das mußte dem Gefangenen unendlich wehe thun, ihn mächtig ergreifen, ihm die Brust zusammendrücken und vielleicht auch das Bewußtsein trüben.

Mir war der Gefangene noch nicht übergeben, ich hatte daher auch noch kein Recht einzugreifen. Aber wenn ich ein solches auch gehabt hätte, ich würde davon kaum Gebrauch haben machen können, da mich das arme Kind dauerte. Auch die Polizei-Beamten waren unschlüssig, ob und wie sie dem Auftritte ein Ende machen sollten. Das Kind hielt die Kniee seines Vaters fest und weinte und schluchzte, wie dies eben nur Kinder thun können. So viel war klar, daß hier ein gewaltsames Auseinanderreißen von Vater und Sohn stattfinden mußte, wenn die Uebergabe an mich vollzogen werden sollte. Das konnte und wollte ich aber nicht selbst thun, ich wollte es nicht einmal mit ansehen und trat deshalb in das Haus zurück, um hier das Weitere zu erwarten. Nach wenigen Augenblicken hörte ich den Knaben rufen: „Ach Gott! ach! ach! lassen Sie mir doch meinen Vater, meinen guten, lieben Vater!“ Noch während dieses Rufens erschien der Gefangene in der Thüröffnung, der eine Beamte schob oder stieß ihn vielmehr vollends in das Haus hinein und schlug dann die Thür mit Heftigkeit hinter sich zu. Die Trennung von dem Sohne und von der Außenwelt war damit zur Ausführung gekommen.

Mein Arbeitszimmer, wohin wir uns ohne weiteren Aufenthalt begaben, lag nach dem Hofe hinaus. Dort konnte man von dem, was vor der Thür sich ereignete, nichts mehr sehen und hören; es herrschte dort eine tiefe Stille. Hier fertigte ich zuerst den Beamten ab. Während ich die Quittung über die richtige Einlieferung schrieb, nahm der Beamte dem Gefangenen die Fessel ab; er steckte hierauf Quittung und Fessel in eine seiner großen Rocktaschen und ging dann fort.

Ich war mit dem Gefangenen allein. Es war eine kleine, schmächtige Gestalt, auffallend kärglich genährt. Das Aussehen war leidend, oder auch hungrig, das Gesicht blaß, ganz ohne Farbe. Die Backenknochen standen hervor, das Kinn war spitz, das Auge ohne Glanz, matt und düster, aber trocken, und lag ungewöhnlich tief in der Höhle. Die Verhaftung konnte das nicht erst geschaffen haben; dies Herabkommen, dies Verfallen, diese Zerstörung eines früher gewiß kräftigen Körpers mußte durch allerhand Sorgen, Entbehrungen und Kümmernisse, vielleicht sogar durch Hunger erzeugt sein. Er nannte sich Friedrich Wilhelm Clausthal, wollte zweiundvierzig Jahre alt, verheirathet und Vater von fünf Kindern sein. Auf die Fragen, welche ich ihm vorlegte, gab er kurze, aber bestimmte Antworten. Seine Stimme war schwach; es hörte sich zu, als ob die Brust krank sei. Meine Fragen beschränkten sich übrigens auch nur auf die persönlichen Verhältnisse, die ich in meine Liste einzuschreiben hatte. Etwas Weiteres brauchte ich nicht zu wissen, das mußte ich dem Untersuchungsrichter überlassen.

Die Visitation, bei welcher nichts von Erheblichkeit gefunden wurde, ließ Clausthal ruhig und willenlos geschehen, kein Wort, kein Laut kam bei diesem unangenehmen Geschäft über seine Lippen; auch bei der Einschließung blieb er still, und in der Zelle ließ er sich sofort auf dem Schemel nieder, als ob die Füße den Körper nicht mehr tragen könnten.

Seit der Einlieferung bis zur Einschließung mochte etwa eine gute halbe Stunde verstrichen sein. Ich hatte augenblicklich nichts weiter zu thun und ging nach meiner Wohnstube. Ein lautes, monotones Sprechen vor dem nach der Straße führenden Fenster machte mich bald nach meinem Eintreten in das Zimmer aufmerksam. Als ich mich dem Fenster näherte und durch dasselbe auf die Straße hinaussehen konnte, bemerkte ich den Knaben des Clausthal, welcher auf den kalten Steinen saß, auf seinem Schooße ein Buch aufgeschlagen und die Hände gefaltet hatte. Er war der Sprecher. Ich hörte ihn noch sagen:

Mach’, Herr, ein fröhlich’ Ende mit aller unsrer Noth,
Stärk’ unser Herz und sende uns Trost bis in den Tod.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_150.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)