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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Mutter sah wohl ein, daß der Abbé nicht allein der Mann war, den feurigen Knaben zu zügeln. Sie übergab ihn daher einem strengern Lehrer, ohne Bertrand deshalb zu entlassen. Dieser neue Lehrer war ein gewisser Herr Lebas, ein Mann von vielem Verdienste und großer Gelehrsamkeit, welcher in späterer Zeit Professor der griechischen Sprache am Pariser Athenäum wurde. Sein Vater[1] war ein eifriger Republikaner aus der Schule Robespierre’s und erschoß sich nach der Hinrichtung des Letztern, weil er es für eine Schande hielt, ihn zu überleben.

Nur selten erschien dieser Herr Lebas, eine Gestalt von nicht gar großem Wuchse, schlank, mit ziemlich stark geröthetem Gesichte, das im Zorne noch röther wurde, und weißen Haaren; wenn er jedoch kam, so galt sein Erscheinen als das sicherste Anzeichen eines Gewitters, das mit Schlägen und Thränengüssen endigte. Wir kannten ihn nur unter dem Namen Abbé. So lange der Prinz Freistunden hatte, kümmerte er sich sehr wenig um dessen Treiben; nahte aber die Stunde des Unterrichts und kam der Prinz nicht sogleich, wenn ihn dessen Kammerdiener Cailloux, ein freundlich-ernster Mann, dazu aufforderie, so zeigte sich das flammend rothe Gesicht des Abbé’s, aus dem zwei feurige Augen unheimlich leuchteten. Die Worte sprudelten ihm alsdann so schnell über die Lippen, daß wir beiden Deutschen nur das öfters wiederholte „Monsieur le Prince“ verstehen konnten. Wollte der „gnädigste Prinz“ sich über sein Ausbleiben entschuldigen, so schwoll dem Zürnenden die Ader auf der Stirn so stark, daß sie zu bersten drohte, und dann fielen die Ohrfeigen fast noch schneller, als vorher die Worte. Heulend suchte Louis den Schlägen zu entrinnen, und wir machten uns unsererseits ebenfalls schnell auf die Beine, weil wir befürchteten, die Reihe möchte nun an uns kommen.

Die Soldaten- und Turnspiele beschäftigten uns aber nicht immer; wir lagen zeitweise auch den Geschäften des Friedens ob, besonders nahmen uns Fischerei und Krebserei, sowie allerhand mechanische Hantirungen öfters in Anspruch. Fast jeder Tag brachte uns denn ein neues unschuldiges Vergnügen und Abwechselung in unsere Spiele. Wir waren zu glücklich, als daß wir nicht die Tücke des neidischen Schicksals hätten gleichsam herausfordern sollen. Nur zu bald sollten wir jedoch an uns selbst erfahren, daß hier unten auf dem verkrusteten Feuerballe, den wir Erde nennen, das Glück nur wie ein Zugvogel vorübergehend erscheint.

Die Königin hatte im Sinne, mit ihrem Bruder Eugen von Beauharnais, Herzog von Leuchtenberg, das markgräfliche Schloß Petershausen sammt den dazu gehörigen Gütern, wozu der sogenannte Lorettowald gehört, zu kaufen. Sie schickte zu diesem Zwecke einen Bevollmächtigten in der Person eines hiesigen Kaufmanus Delisle an den Großherzog Ludwig nach Carlsruhe. Wie man allgemein sagt, hatte letzterer für die Herrschaft einmalhunderttausend Gulden gefordert, wogegen der Beauftragte nur neunzigtausend Gulden geben wollte. Der Großherzog soll kurz abgebrochen und seine Antwort auf den folgenden Tag versprochen haben. An diesem soll auch wirklich eine solche erfolgt sein und gelautet haben: die Herrschaft werde jetzt um keinen Preis mehr verkauft.

Als diese Nachricht in’s Publicum drang, war dasselbe sehr aufgebracht über den Bevollmächtigten, da man den Kaufpreis allgemein für nicht zu hoch hielt.[2] Es wurde dies aber noch in einem um so höhern Grade, als man bald vernahm, daß die Königin im Aerger über ihr vereiteltes Unternehmen von Constanz fortzuziehen beabsichtige. Ein solcher Entschluß war nicht geeignet, die Einwohnerschaft zu beruhigen, besonders in Jahren wie 1816 und 1817 waren, wo Überschwemmungen und hohe Preise aller Lebensmittel das Elend der an sich nicht wohlhabenden Bevölkerung noch bedeutend erhöhten. Man kannte die Wohlthätigkeit der königlichen Familie und versprach sich von derselben Minderung der Noth; auch rechnete man für die Zukunft auf vielen Verdienst bei den nöthigen Bauten im Schloß und erwartete von dem Glanze zweier kleiner Höfe keine geringe Hebung des Wohlstandes.

Zuletzt mußte man sich aber in’s Unvermeidliche fügen. Die Königin hatte Augsburg zu ihrem Aufenthaltsort gewählt, angeblich, weil die Schulen jener Stadt ausgezeichnet gewesen sein sollen. Am 6. Mai 1817 reiste sie ab. Die Trennung vom Prinzen war der zweite größte Schmerz meines Lebens; der erste war der frühe Tod meines guten Vaters gewesen. Ich hatte mit dem größten Theile des Hofstaates auf sehr freundlichem Fuße gestanden, weil man wußte, daß der Prinz mich recht gern hatte. So waren mir der Kammerdiener der Königin, Charles Tallé, welcher später in gleicher Eigenschaft zum Prinzen kam und demselben zur Flucht aus Ham vorzugsweise mit verhalf, sowie der Kutscher Florentin, welcher erst vor wenigen Jahren auf dem Schloß Arenenberg starb, sehr zugethan. Mit der Königin selbst kam ich, meines Wissens, nie in unmittelbare Berührung; denn was sollte sie auch mit einem zwölfjährigen Knaben sprechen? Ueberdies war ich damals viel zu schüchtern, als daß ich mich mit ihr zu reden getraut hätte, wenn sie selbst dies hätte thun wollen. Mit einer ehrfurchtsvollen Scheu betrachtete ich sie in ihrer vornehmen Schönheit und Anmuth nur von Weitem und war schon glücklich genug, wenn sie mir einmal zulächelte.

Ich könnte nun hiermit meine Jugenderinnerungen schließen, da mit der Abreise des Prinzen dieselben ihr Ende erreicht hatten. Zur Abrundung des Ganzen will ich aber noch kurz erzählen, was mir selbst oder Andern begegnet ist und was ich meist selbst mit angesehen habe.

Der Prinz war nur wenige Monate in Augsburg, als ich Gelegenheit hatte, ihm durch einen bekannten Mann einen von mir in französischer Sprache geschriebenen Brief zuzuschicken. Ich schilderte ihm darin in einfacher und offener Sprache meine Sehnsucht nach ihm. Er schrieb mir zwar nicht selbst, wenigstens erhielt ich keinen Brief von ihm, schickte mir aber viele freundliche Grüße und zugleich ein hübsches Geschenk. Dasselbe besteht in einem äußerst zierlich gearbeiteten kleinen goldenen Helm mit einem geflügelten Drachen oben und einem verschließbaren Visir. Mittels eines Ringelchens konnte er als Berloque an die Uhrkette gehängt werden. Glücklicherweise bin ich noch im Besitze dieses werthvollen Andenkens.

Unterdessen hatte die Königin das Schloß Arenenberg im Thurgau, zwei kleine Stunden westlich von Constanz erkauft und dasselbe herrichten lassen. Ich möchte nicht sagen, verschönern, denn das Schloß mit seinen Zinnen und seiner von vier Rundthürmen überragten Umfassungsmauer, ein Stück Mittelalter, hatte mir viel besser gefallen, als der charakterlose Neubau. Als er fertig war, bezog ihn die Königin mit dem Prinzen und ihrem Hofstaat. Ich bekam aber den Ersteren viele Jahre nicht mehr zu sehen, und als ich ihn wieder erblickte, erkannte ich ihn fast nicht mehr, so sehr hatte er sich verändert. Aus dem zarten Knaben mit dem schönen und milden Gesichtchen war ein Mann geworden, der auf nichts weniger als auf Schönheit Anspruch machen konnte. Es kam mir vor, als sei die Veränderung seiner äußern Person, wie an seinem Schloß, keine Verbesserung zu nennen.

Universitätsstudien, Reisen und Berufsgeschäfte einfernten uns räumlich und zeitlich von einander. Der Prinz hatte sich in den Jahren 1830 und 1831 in die italienische Verschwörung verwickelt, der sein Bruder zum Opfer fiel, während er selbst diesem Loose nur schwer entrann. Von dort an träumte er wohl seinen Kaisertraum und suchte mit allen Mitteln den Thron Frankreichs zu erlangen, welchen ihm der Onkel zugesagt hatte und auf den er ein vollkommenes Recht zu haben glaubte. Es ist daher begreiflich, daß er bei solchen Bestrebungen keinen Sinn mehr hatte für die glücklichen Tage seiner Kindheit, die mit all ihren Freuden schon allzuweit hinter ihm lagen. Ich muß jedoch zur Steuer der Wahrheit sagen, daß er mich als seinen Spielcameraden immer sehr freundlich und zuvorkommend behandelte, so oft wir uns trafen, was jedoch nicht häufig geschah.

Als im Jahre 1834, vorzugsweise durch meine Bemühungen, ein Bürgermuseum in Constanz erstand, wurde er auf meinen Vorschlag zum Ehrenmitglied der Gesellschaft ernannt, wofür er sich in einem Schreiben an dasselbe, sowie an mich, bedankte. Mehreren Bällen des Museums wohnte er bei und ich mußte immer an seinem Tische Platz nehmen. Seine Wohlthätigkeit war die alte, was Stadt und Land bezeugen könnte. Oft machte er sich das Vergnügen, ganzen Schaaren von Buben, die seiner schon lange auf der Stiege des Theaters warteten, den Eintrittspreis auf das sogenannte

Chörle zu bezahlen. Da er meistens erst nach Beginn

  1. Derselbe Lebas, von dem, durch ein eigenthümliches Zusammentreffen, erst in voriger Nummer der Artikel „In der Höhle des Löwen“ erzählt hat.
    Die Redaction.
  2. Die großherzoglich markgräflich badische Domänen-Kanzlei verkaufte im Jahre 1851 an’s großherzogliche Kriegsministerium das Schloß mit allen baulichen Zugehörungen, den Gärten und Wällen um dieselben herum, mit Ausschluß des Lorettowaldes, der Reben, Felder etc. um fünfundsiebzigtausend Gulden.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_106.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)