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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Lungern sie darum in den offenen Fenstern, stehen sie darum in dichten Gruppen an den Straßenecken und vor den Hausthüren, schließen sie darum ihre Läden und Gewölbe? Warum denn blicken die Frauen so ängstlich? – – Der Junge mit der Zeitungsmappe, er weiß es. Nur einen verächtlichen Blick hat er heute für seine sorgenfreien Altersgenossen, die sich zwischen den Budenreihen tummeln und jagen; wenn er aber auf eine Gruppe bejahrter, ehrenfester Männer stößt, welche in heißer Rede die Arme werfen oder aufhorchend die Köpfe schütteln, bleibt er stehen und legt sein Gesicht in Falten, als wäre er hundert Jahre alt.

Was bedeuten die singenden, brüllenden Truppen trunkener Gesellen in Arbeitskitteln, die Arm in Arm die Straßen durchziehen? Warum hat der Gensdarm, der aus dem Hause des Bürgermeisters tritt, denn gar so große Eile und läßt seinen Säbel lauter denn je auf dem Pflaster rasseln? Der Druckerjunge des Herrn Adler weiß Alles, versteht Alle. Er ist nicht umsonst „Einer von der Morgenzeitung“, er ist ein Wissender und könnte Jedermann die Ereignisse voraussagen, an deren Vorabend die Waldkirchener stehen. Aber er begnügt sich damit, seine unpolitischen Altersgenossen zu verachten, den Kopf hoch zu tragen und den Radetzkymarsch zu pfeifen, wobei er sich seiner Zeitungsmappe anstatt der türkischen Trommel bedient.

Als er beim rothen Roß anlangt, sieht er einen Schwarm von Knaben und Mädchen davor versammelt und einen Triumphbogen von Tannenreisern anstaunen, der das Thor des Gasthauses schmückt. Er staunt nicht; er hat für die Guirlanden nur einen verständnißvollen Seitenblick. Im kühlen Thorweg sitzen einige schwarzbefrackte Männer um ein leeres Faß und trinken Bier. Er geht mit höchster Geringschätzung dieses auffallenden Häufleins vorüber und pfeift den Sturmgalopp.

Er pfiff noch, während er die Treppe zu Oldenburg’s Wohnung hinanstieg, aber er verstummte plötzlich, als ihm der wohlbekannte Waldkirchner Arzt von oben entgegenkam. Doctor Werner war ein stattlicher Mann, von rosiger Gesichtsfarbe, wohlgenährt und wohlgekleidet. Er sah neben dem haarstruppigen, schmutzigen Jungen wie ein indischer Nabob aus; doch nicht der strenge Seitenblick, den er ihm zuwarf, nicht das Bambusrohr mit dem Goldknopf, nicht die Diamanten im schneeweißen Brustlatz schüchterten den Knaben ein. Dieser war in Bezug auf Aerzte der Meinung, daß sie nur für reiche Leute da seien, und pflegte mit so wenig Ehrerbietung am Doctor vorüberzupfeifen, als ob er vom Herrgott selbst ewige Gesundheit patentirt erhalten hätte.

Aber heute lag in den zwei Stirnfalten zwischen den Augenbrauen des Doctors ein so seltsamer Ausdruck, lag über seiner Gestalt trotz der hellfarbigen Sommerkleidung ein düstrer Schatten und in seinem Hinabschreiten eine Art schwermüthiger Feierlichkeit, daß der Knabe sich scheu zur Seite drückte und dann, über das Geländer gelehnt, Werner bis in den Thorweg nachblickte, von einer dunkeln Vorstellung beunruhigt, daß so der Arzt aussähe, wenn er zum letztenmal von einem Kranken geht.

Er fand Oldenburg in einem Zustande, der ihm seine frühere Sicherheit nicht wiedergab, blaß, verweint, niedergeschlagen. Als er ihm den Correcturbogen überreichte, starrte Oldenburg mit leerem Blick auf das Papier und gab es dann, wie geistesabwesend, wieder zurück. Auf einen fragenden Blick des Knaben stammelte der Andere, daß Herr Adler die Correctur übernehmen möchte, denn er selber wäre heute unfähig dazu.

Dem Jungen trat das Wasser in die Augen. „Haben Sie keine Angst nicht,“ sagte er mit gutgemeinter Wichtigkeit, als wenn er der Verleger und Druckereibesitzer wäre, „das wollen wir besorgen. Und die Weber,“ fuhr er fort, „die Weber sollen nur kommen und uns bedrohen. Wozu haben wir die Fünfunddreißiger in Neustadt? Wupp! sind sie da; und eine Kanone kommt vor die Druckerei, die andere vor das rothe Roß. Hurrah! die Morgenzeitung fürchtet sich nicht.“

Er sprach diese Worte wirklich aus der Seele seines Principals, des Herrn Adler, aber Oldenburg sah ihn mit verwunderten Augen an. „Wovon redest Du denn?“ fragte er. „Was ist’s mit den Webern?“

„Was!“ schrie Jener, „das wissen der Herr Doctor nicht?

Das wissen Sie nicht?! Drüben in der Baumwollenfabrik haben sie heute die Arbeit eingestellt. Ein Einziger war dagegen und wurde deshalb von seinen Cameraden krumm und lahm geschlagen. Und in der Zuckersiederei wollen sie heute Abends höheren Lohn begehren. Randal an allen Ecken und Enden!“

„Die Unglücklichen!“ sagte Oldenburg.

„Hallunken und von der Reaction bestochen sind sie, meint der Principal,“ versetzte eifrig der frühreife Junge. „Der bucklige Nöldeken ist ihr Rädelsführer. Na, den Burschen kennen wir! Als er im vorigen Jahr in der Residenz ohne Arbeit war, ließ er sich von der ,Gesellschaft der wahren Volksfreunde’ unterstützen … Merken Sie jetzt, woher der Wind weht? Wie? Daß just heute der Präsident der wahren Volksfreunde – na, für die Freunde danken wir! – daß er just heute nach Waldkirchen kommt und im rothen Roß einen Vortrag halten wird, das ist doch merkwürdig, meint der Principal.“

Oldenburg stand an der Thür des Krankenzimmers. Er schlug sich vor die Stirn und stöhnte. „Heute! Warum gerade heute?!“ sagte er verzweiflungsvoll.

„Major Falkenstein und der bucklige Nöldeken haben nach Kräften gewühlt,“ fuhr der Lehrling fort. „Nicht allein die Fabrikarbeiter, auch Honoratioren und Bürger werden den Präsidenten Brausewetter empfangen. Der dumme Teufel, Ihr Wirth, ließ sich herumkriegen, giebt sein Local her und staffirt es obendrein mit Laubwerk und Fahnen aus, als ob ein Prinz käme. Pfui! – Sie müssen kündigen, meint der Principal.“

„Ach, ich werde ohnedies dies Haus verlassen,“ sagte Oldenburg leise vor sich hin.

Der junge Politiker aber fuhr fort, indem er sich in die Brust warf: „Gegen wen wird Brausewetter sprechen? Gegen den Fortschritt, gegen uns, gegen die Morgenzeitung.“

Trotz seiner Aufregung fiel der Knabe nur selten aus dem Flüsterton, denn Oldenburg schien mehr nach der Thür, als nach dem Gespräch hinzuhorchen. „Unsern famosen Artikel gegen die falschen Volksfreunde,“ begann Jener nach einer Pause wieder, während welcher auch er den Blick ängstlich auf die Thür gerichtet hatte, „vergiebt und vergißt uns Brausewetter nicht. Er wird uns ein Feuerchen anschüren, wird gegen uns schäumen und hetzen.

Und die dummen Kerle werden ihm glauben. ’s ist keine Bildung im Kattun. Betrunken, wie sie jetzt schon sind, und mit Nöldeken an der Spitze, stürmen sie die Druckerei. Aber es giebt eine Gewerbeordnung, meint der Principal, und in Neustadt liegen die Fünfunddreißiger. Unsere Fabrikherren und er, der Principal, waren bereits beim Bürgermeister. Wir lassen uns nicht bange machen.“

Oldenburg durchwandelte in größter Unruhe das Zimmer. „So weit wird, so weit darf es nicht kommen,“ sprach er dann. „Geh, mein Junge, und sage Herrn Adler, er möge sich beruhigen. Brausewetter, der besternte, conservative Mann, kann um seiner eigenen Stellung willen den Schritt der Weber nicht billigen. Darüber bin ich ruhig, aber meine Frau – – meine arme Frau –“

Er sprach nicht mehr, doch der Knabe verstand ihn und brach trotz seines politischen Bewußtseins plötzlich in Thränen aus. „Sagen Sie das nicht!“ schluchzte er, „sagen Sie das nicht! Die gute Frau Doctorin wird gewiß wieder gesund. Man kann die Schwindsucht haben und hundert Jahr alt werden, meint der Principal …“

Vom Bahnhof her klang ein schriller Pfiff.

„Da kommt der Zug,“ sagte der Knabe, während er sich mit seinem Aermel die Augen wischte. „Ich wollt’, ich dürfte den Brausewetter empfangen … Die liebe, gute Frau Doctorin! … Ich wollte ihm zeigen, was ’ne Volksfreundschaft ist … Adieu, Herr Doctor … Und es ist nicht so schlimm, meint der Principal.“

Der Knabe ging, und Oldenburg öffnete langsam die Thür des Krankenzimmers. Elise saß zu Füßen des Bettes; sie hielt die Arme auf den Schooß gestützt und das Gesicht in die Hände begraben, stumm, regungslos, ganz versunken in Gram und vergebliche Reue. Die Kranke aber machte einen ohnmächtigen Versuch, ihr Antlitz dem Eintretenden zuzukehren. Als er dann neben ihr stand und sich über sie niederbeugte, entdeckte er mit Entsetzen, daß auf diesem Antlitz selbst das sanfte Abendlicht nicht mehr Wärme und Leben heucheln konnte. Der Schatten aus dem unbekannten Thal lag auf Stirn und Wangen … Er faßte ihre Hand und fühlte sich von Kälte bis an’s Herz durchschaudert, als hätte er Eis berührt. Nur in den Augen noch war ein schwacher

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