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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

„Ja, mi Frou!“ erwiderte die Holländerin.

„Wie alt ist es?“

„Anderthalb Jahr, mi Frou!“

„Es ist ein Mädchen?“

„Ja, mi Frou!“

„Es ist ein hübsches Kind!“

„Ja, mi Frou!“

Die Dame fragte die Frau nicht mehr. Sie sah auch nach dem Kinde nicht mehr. Sollen wir uns für ein kleines Kind interessiren – ein wenig Interesse muß uns auch die Mutter einflößen; selbst die Frauen fühlen so. Sie wandte den Blick ganz von dem Verdeck weg, auf die See, nach dem Lande hin. Es ist eine langweilige Fahrt der holländischen Küste entlang; man sieht nichts, als die niedrigen, kahlen Sanddünen, hin und wider die grauen Flügel einer Windmühle. Man muß viel Sehnsucht im Herzen tragen, um nach solchen Gegenständen mit Sehnsucht blicken zu können. Die Dame hatte wohl nicht das Eine, und konnte daher nicht das Andere. Sie wandte sich um, nach der Seeseite, wo ich stand. Ihr Blick mußte mich streifen. Sie schien in dem nämlichen Augenblicke zu stutzen und sah über das Wasser hin; dann kehrten ihre Augen zu mir zurück. Ich konnte die Augen nicht sehen, der Schleier hing noch immer über ihrem Gesicht; aber die Haltung des Kopfes ließ mir keinen Zweifel, daß sie mich betrachte. Warum, zumal da sie mich schon vorher gesehen hatte, ohne daß ich ihr aufgefallen war? Ich konnte es nicht errathen. Sie sah darauf eine Weile vor sich hin; sie schien über etwas nachzudenken. Dann stand sie auf und trat rasch zu mir.

„Sie sind Geistlicher?“ fragte sie mich rasch in französischer Sprache.

Ich trug gewöhnliche weltliche Kleidung ohne irgend eine Ab- oder Auszeichnung. Aber jetzt, da ich hinter ihr stand, hatte ich einen Augenblick meinen Hut abgenommen, und sie hatte meine Tonsur wahrnehmen können.

„Ja, Madame,“ antwortete ich ihr.

„Und Sie reisen nach –?“ fragte sie weiter.

„Nach Antwerpen.“

„Mein Herr, eine Bitte.“

„Befehlen Sie, Madame.“

„Folgen Sie mir in die Cajüte. Aber nicht sogleich. Nach einer Viertelstunde etwa. Und – wenn wir dort allein sind, nahen Sie sich mir. Ist ein Dritter anwesend, so bin ich nicht für Sie da.“

„Ich werde Ihnen folgen, Madame, und auch Ihrer Anweisung.“

Sie kehrte zu dem Platze zurück, auf dem sie gesessen hatte, und sah noch eine Zeit lang über das Wasser hinüber; dann erhob sie sich wieder und ging mit ihrem leichten und doch so stolzen Schritt zu der Cajüte. Sie entschwand meinen Augen, wie sie die Treppe hinunterstieg. Sie hatte leise, rasch, kurz abgebrochen mit mir geredet. Sie hatte sich umgesehen, ob einer der Anwesenden auf uns achte; Niemand aber hatte nach uns hingeblickt; auch die holländische Frau nicht, die gerade mit ihrem Kinde beschäftigt war. Was sie von mir, dem Geistlichen, wollte? Was sie war? Diese Fragen kehrten mir immer und immer wieder. Und auch, ich leugne es nicht, ich war ein junger Mensch, meine fünfundzwanzig Jahre alt – war sie jung? war sie schön? – Aber ich mußte es ja erfahren, das Eine wie das Andere, noch mehr von ihr. Sie hatte mir sogar etwas anzuvertrauen. Die Viertelstunde war verflossen. Ich ging in die Cajüte. Sie war allein darin und saß hinten an der Wand auf einer Bank in tiefem Nachsinnen; sie war noch verschleiert und hatte den Kopf in die Hand gestützt. Bei meinem Eintreten sah sie leicht auf, dann wieder vor sich nieder, dann winkte sie mit der Hand nach einem Feldstuhle, der zur Seite stand.

„Setzen Sie sich mir gegenüber.“

Ihre Stimme klang so besonders weich. Ich nahm den Stuhl und setzte mich ihr gegenüber.

„Sie sind ein Deutscher?“ fragte sie mich.

„Ja, Madame.“

„So sprechen wir deutsch.“

Wir hatten bisher französisch miteinander gesprochen. Das Letzte sagte sie in deutscher Sprache, und in dieser redeten wir weiter. Aber ehe sie wieder begann, schlug sie den Schleier zurück. Nie hatte ich bis dahin, nie habe ich seitdem ein schöneres Gesicht gesehen. Das waren die vollendetsten Formen, die edelsten Züge, Alles in der Frische, in dem Glanz und in dem Schmelz der Jugend. Aber es lag kein Friede auf diesem schönen Gesichte. Sie hatte den Schleier aufgeschlagen, um ihre Augen zu trocknen, sie hatte geweint. Schwere Thränen hingen noch an den langen, dunklen, seidenen Wimpern. Sie trocknete sie, die Augen blieben feucht; ihr Glanz war desto bezaubernder.

Sie sah mich ein paar Momente nachdenkend an, um, wie es schien in meinem Gesichte, in meinen Augen lesen zu wollen, nochmals, klarer, deutlicher, als durch den dichten, schwarzen Schleier, ob sie mir das sagen dürfe, was sie mir zu sagen habe.

„Haben Sie gern diese Tonsur genommen?“ fragte sie dann.

Es war eine sonderbare Frage. Ich antwortete ausweichend: „Ich war von früher Jugend an mit dem Gedanken vertraut, Geistlicher zu werden.“

„Ah, also mußten Sie es werden!“

Ich schwieg. Sie verließ den Gegenstand.

„Waren Sie schon früher in Antwerpen?“ fragte sie.

„Nein.“

„Werden Sie längere Zeit dableiben?“

„Ein paar Tage, denke ich.“

„Im Gasthofe?“

„Ich werde in einem Gasthof einkehren.“

„Mein Herr, darf ich Sie dahin begleiten?“

Ich mußte sie doch darauf ansehen. Sie konnte eine Abenteurerin sein, trotz alledem, und ich war ein Geistlicher, hielt sonst auf meine Ehre und auf meinen Namen. Sie sah meine Zweifel. Eine Aeußerung tiefer Betrübniß zeigte sich in ihrem Gesichte, in den schönen edlen Zügen, in den feuchten, glänzenden, bezaubernden Augen.

„O, mein Herr,“ sagte sie mit ihrer weichen, in das Herz dringenden Stimme, „das ist die schwerste Last des Unglücks, daß man ihm mißtraut. Aber Sie haben Recht. Ich bin Ihnen eine Fremde –“

Sie wollte noch etwas hinzusetzen, doch sie brach ab. Ich hatte schon keinen Zweifel, keinen Argwohn, kein Mißtrauen mehr. Ich hätte nicht jung sein müssen, sie hätte nicht – Genug!

„Madame,“ sagte ich, „Sie sind eine Unglückliche, die um meinen Schutz bittet –“

„Nur um eine Gefälligkeit, mein Herr.“

„Sie werden auch unter meinem Schutze stehen.“

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie.

Dann sann sie ein paar Secunden nach und setzte hinzu: „Vielleicht werde ich Sie auch um Ihren Schutz bitten müssen, es ist möglich. Aber ihn dürfen Sie keiner Fremden geben; Sie werden dann vorher mein Schicksal erfahren. Für jetzt darf ich Sie nicht zum Vertrauten machen. Und nun noch eine Bitte. Verlassen Sie mich, und begegnen und kennen wir uns vor Antwerpen nicht wieder.“

Sie reichte mir ihre feine Hand. Ich glaubte einen leisen Druck zu fühlen, wie ich sie in die meinige legte. Sie zog den Schleier wieder über das Gesicht. Ich verließ die Cajüte, allein der Druck der Hand durchschauerte noch lange meinen ganzen Körper.

Ich sah sie nicht wieder, bis wir in Antwerpen landeten und ausstiegen, da ich oben auf dem Verdeck gewesen, sie aber unten in der Cajüte geblieben war. Als sie heraus kam, sah ich sie zittern. Die hohe, stolze Gestalt ging gebeugt; sie schien sich kaum aufrecht halten zu können. Einen Augenblick schlug sie den Schleier auf; sie war sehr blaß; ihre Augen waren verweint. Sie hatte den Schleier gelüftet, um mir einen Blick zuzuwerfen. Es war ein bittender, als wenn sie gefürchtet hätte, ich könne sie vergessen haben, verlassen wollen. Meine Augen antworteten ihr beruhigend. Sie ließ mit einem dankenden Blicke den Schleier wieder fallen. Dann bemerkte ich, wie sie sich die Stadt ansah, den Hafen, das Bollwerk. Sie sah nach Allem lange und immer wieder von Neuem, als wenn sie es sich recht tief in das Gedächtniß einprägen wolle. Ein paar Mal schienen ihre Augen über die Stadt hinüber zu schweifen, nach den Häusern, die draußen unter Bäumen lagen; sie schienen dort etwas zu suchen. Dann senkten sie sich angelegentlich auf die Menge von Menschen, die am Kai standen, unser Schiff, andere Schiffe erwarteten; sie schien jeden der einzelnen Haufen durchdringen zu wollen. Sie fand wohl nirgends, was sie suchte. Ich war näher an sie herangetreten und hörte sie schwer seufzen. Wir stiegen aus. Sie hatte mir einen Wink gegeben. Ich verließ vor ihr das Schiff, bestellte einen der Wagen, die am Ufer hielten, ließ ihn hinter eine Reihe von Buden fahren, hinter denen er dem großen Haufen der Leute verborgen war, und kehrte zum Schiffe zurück. Sie kam mir entgegen.

„Ich habe einen Wagen,“ sagte ich ihr.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 722. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_722.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)