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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

mir so unheimlich. Ich möchte gerne Gewißheit haben. Lange können sie nicht mehr ausbleiben.“

„Wenn sie zurückkommen, Onkel,“ sagte die Braut.

„Denkst Du denn immer noch an das Schlimmste, Kind? Du hast mir die Angst eingejagt.“

„Hm, Onkel, wir haben sie Alle, und auch ohne mich.“

Sie hatte Recht. Auch die Andern standen erwartungsvoll, gespannt, gedrückt; bereit zur Abreise und doch ohne Entschluß dazu. Sie waren in dem offenen Gärtchen, das sich vor dem Gasthause befand. In der Ferne tauchte aus dem Zwiedunkel eine Gestalt hewor.

„Der Staatsanwalt!“ rief Herr Milden, der Alles zuerst sah.

„Und er kommt allein!“

„Ohne seine Frau!“

„Allmächtiger Gott, wo mag er die Frau gelassen haben!“

„Und er geht so langsam, so schwankend.“

„Er sieht aus wie ein Mörder.“

Der Oberstaatsanwalt von Rachenberg kam langsam mit schwankenden Schritten näher; sein Gesicht war geisterbleich. Er sah die Gesellschaft, ging aber an ihr vorüber dem Hause zu. Der Wirth begegnete ihm.

„Ist ein Richter hier in der Nähe?“ fragte er den Mann.

„Das nächste Gericht ist eine Stunde von hier in der Stadt,“ wurde ihm geantwortet; „aber einer der Richter ist zufällig bei mir im Hause.“

„Rufen Sie ihn her.“

Der Wirth ging in das Haus, und der Staatsanwalt ging vor dem Hause auf und ab. Sein Schritt wurde rascher, fester, wieder langsamer. Der Wirth kam mit einem Herrn aus dem Hause. Er stellte den Herrn dem Staatsanwalt vor.

„Der Herr Stadtrichter!“

„Ich bin der Oberstaatsanwalt von Rachenberg, aus der Residenz,“ sagte der Staatsanwalt.

Der Stadtrichter verbeugte sich tief.

„Ich habe Ihnen ein entsetzliches Unglück anzuzeigen,“ fuhr der Staatsanwalt fort. „Es fordert Ihre sofortige amtliche Thätigkeit heraus. Ich machte mit meiner Frau einen Spaziergang zu der Steilen Wand. Wir wollten den Sonnenuntergang dort sehen. Der Fels ist schmal – Sie kennen ihn?“

„Ich kenne ihn, Herr Oberstaatsanwalt.“

„Unmittelbar unter ihm öffnet sich ein tiefer felsiger Abgrund.“

„Ich weiß es, Herr Oberstaatsanwalt.“

„Meine Frau war unvorsichtig. Ich hatte nicht auf sie geachtet. Sie hatte sich zu weit vorgebeugt, das Gleichgewicht verloren. Ein entsetzlicher Angstschrei! Ich sah mich nach ihr um. Sie war hinuntergestürzt. Ich sah sie stürzen. Sie verschwand meinen Blicken.“

Der Staatsanwalt hatte mit langsamer, gemessener fester Stimme gesprochen. Ein Schrei des Entsetzens drang hinter ihm aus der Reisegesellschaft hervor.

„Sie ist gemordet!“ schrie die Braut auf.

Die Andern hatte das Entsetzen stumm gemacht. Der Staatsanwalt fuhr mit seiner ruhigen Stimme zu dem Richter fort: „Ich horchte in die Tiefe hinein, ich vernahm keinen Laut.

Die Unglückliche muß an einem Felsenstück zerschmettert sein, oder ihr Körper ist unten am Boden zerschmettert worden.“

„So kann es nur sein,“ verbeugte sich der Richter.

„Sie werden die Leiche sofort müssen aufsuchen lassen.“

„Ich werde auf der Stelle die nöthigen Befehle dazu ertheilen.“

„Sie werden dann noch heute Abend den Thatbestand feststellen müssen. Ich war allein. Außer mir war kein Zeuge weiter da. Sie werden nur mich zu vernehmen haben. Indeß, ah!“

Er sah sich um nach der Reisegesellschaft. „Mit den Herrschaften waren meine Frau und ich hierhergekommen. Sie werden auch sie vernehmen müssen, über das, was sich zugetragen hat bis zu dem Augenblicke, da ich mich mit meiner Frau von ihnen trennte, um zu der Steilen Wand zu gehen.“ Der Richter verbeugte sich.

„Ich schwöre, daß er sie gemordet hat,“ sagte die Braut.

„Mädchen, willst Du falsch schwören?“

„Können Sie das Gegentheil beschwören, Onkel?“

„Hm, es ist eine fatale Sache! Wir werden jetzt hier bleiben müssen.“

Sie mußten es. Der Richter war an Herrn Milden herangetreten.

„Sie hörten, was ich mit dem Herrn Oberstaatsanwalt sprach.“

„Wir haben es gehört.“

„Und Sie sind bereit? Ihre Vernehmung ist nur eine Formalität, die bald abgemacht sein wird.“

„Hm, es wäre doch die Frage,“ platzte Herr Milden heraus.

„Wie, mein Herr?“

Der kleine, dicke Herr sah fast ängstlich seine Nichte an. Die Braut wollte vortreten, etwas sagen; sie hatte nicht den Muth; sie stand scheu. Der Richter stutzte. Es mochten ihm sonderbare Gedanken durch den Kopf gehen. Der hochstehende Oberstaatsanwalt, der, wie Jedermann wußte, bald noch höher gestellt, als Präsident sein Vorgesetzter, dann gar Chef der Justiz des ganzen Landes werden sollte, dieser strenge, unbeugsame Vertreter des Rechts, dieser als ebenso leidenschaftlich wie hart und mitleidlos verrufene und gefürchtete Verfolger der Verbrecher, dieser Schrecken aller Inquisiten – sollte jetzt auf einmal als Verbrecher in seine Hände fallen, sollte selbst Inquisit werden, sein, des untergeordneten Richters Inquisit! Es war ihm nicht wohl zu Muthe bei dem Gedanken. Er wandte sich mit seinem bedenklichen Gesichte zu dem Herrn von Rachenberg zurück. Der Staatsanwalt war am Hause stehen geblieben. Er mochte halb vernommen haben, was mit dem Richter gesprochen war. Das Andere errieth er aus dessen Gesichtszügen.

„Ich stehe, bis Sie Alles festgestellt haben, zu Ihrer Verfügung,“ sagte er zu dem Richter.

Er sprach es stolz, aber mit einem gedrückten Stolze. Er wollte seine Gestalt aufrichten, sie sank unwillkürlich zusammen.

„Darf ich bitten, daß wir uns sämmtlich in das Haus begeben?“ sagte der Richter.

Er ging mit dem Staalsanwalt in den Gasthof. Die Anderen folgten. Er ließ sich besondere Zimmer anweisen. Dann ertheilte er Befehl zum Aufsuchen der Leiche und wollte nun zur sofortigen Vernehmung der Anwesenden schreiten. Mit dem Verhören des Staatsanwalts mußte er beginnen.

Herr von Rachenberg sah aus wie eine Leiche. Draußen im Zwiedunkel des Gartens hatte man es nur halb wahrnehmen können. Sein Gesicht war erdfahl; die Züge waren verstört, verzerrt; die großen Augen hatten ihren Glanz verloren, sie starrten wie ein Paar erloschene Kohlen. Er hatte sich auf einen Stuhl setzen müssen; er saß da wie ein gebrochener Mann. Man konnte ihn ohne Schrecken, ohne Entsetzen nicht ansehen.

„Darf ich jetzt um Ihre Mittheilungen bitten?“ sagte der Richter zu ihm.

Er wollte antworten, erzählen. Er vermochte es nicht. Alle seine Kräfte hatten ihn plötzlich verlassen, auch die Stimme, die Sprache.

Er mußte sich ermannen, gewaltsam, aber nur auf einen Augenblick.

Der Officier der Gensdarmen, der vorhin in dem Gehölze mit ihm gesprochen hatte, trat in das Zimmer, wandte sich zu ihm.

„Herr Oberstaatsanwalt, meine Leute bringen die Leiche Ihrer Frau Gemahlin.“

Er fuhr krampfhaft auf.

„Wo haben Sie sie gefunden?“

„In der Schlucht da hinten.“

„Und wie, wie?“

„Die Gensdarmen trafen auf die beiden Flüchtlinge aus der Festung. Von dem Einen erfuhren sie –“

Der Staatsanwalt sank in seinen Stuhl zurück. Seine Augen schlossen sich, er konnte nur mit dem Finger auf den Richter zeigen, daß das Weitere mit diesem zu verhandeln sei. Der Richter gab sich dem Officier zu erkennen. Er ordnete dann an, daß die Leiche hereingebracht werde. Zu seinem richterlichen Geschäfte gehörte es, sie von den Anwesenden, die die Todte gekannt hatten, anerkennen zu lassen. Die Unglückliche wurde gebracht. Körper und Gesicht waren zerschmettert. Sie war kaum wieder zu erkennen. Die Thränen derer, die sie gekannt hatten, empfingen sie, auch die Augen der Männer waren naß geworden. Der Staatsanwalt hatte die Augen wieder geöffnet. Er mußte sie fest, mit beiden Händen bedecken. Der Richter sah ihn befremdet, bedenklich, mit Schrecken an.

„Herr Oberstaatsanwalt, es ist die Leiche Ihrer Gattin!“

Der Staatsanwalt konnte sich nicht erheben, nicht den Blick zu der Todten wenden.

„Was wäre das, mein Herr?“

„Ich habe einen Zeugen mit hierher gebracht,“ sagte der Officier zu dem Richter.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 404. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_404.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)