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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

den Sonnenstrahlen. Ah, der Commandant wohnt wohl darin, ein stolzer, strenger General, der die Freuden der Tafel und das Nichtsthun des militärischen Paradelebens liebt. Und nun sehen Sie da unten die grauen Mauern, die dunklen Löcher darin, die Fenster vorstellen sollen. Es werden wohl die Kasematten sein, und in den Kasematten liegen die armen –“

„Fräulein!“ flüsterte der Student wieder leise.

„Was wünschen Sie?“

Der Student wollte wieder auf den finsteren Mann zeigen.

In dem Augenblicke wandte sich dieser um. Der Student ließ den Finger sinken. Das Fräulein hatte weder das Eine noch das Andere gesehen. Sie war auch vorher in der Veranda nicht Zeuge von dem eigenthümlichen Eindrucke gewesen, den die in der Festung gelösten Kanonenschüsse auf den finsteren Mann und dessen Frau gemacht hatten.

„In der Festung sitzen auch Staatsgefangene?“ fragte sie den Studenten.

„Hm, ja, ich glaube, Fräulein.“

„Und vorhin die drei Kanonenschüsse – Sie haben sie doch gehört, Herr Student?“

„Ich hörte sie.“

„Bedeuteten, daß Gefangene entkommen sind?“

„Zwei, mein Fräulein!“

„Ah, Herr Student, mit welchen Gefühlen mögen die jene schimmernden Thürme und Zinnen und die dunklen Mauern und Löcher betrachten! Vielleicht gerade in diesem Augenblicke! Vielleicht gar hier in unserer Nähe! Anderthalb Stunden weit mag die Festung von hier entfernt sein. Vor ungefähr anderthalb Stunden fielen die Schüsse. Weiter als bis hier können die Entflohenen wohl nicht gekommen sein. Sie werden zwar nach Kräften geeilt haben, wohl mehr, als die Kräfte aushalten konnten; aber wie viele Gefahren und wie viele Angst vor Gefahren legen dem Flüchtling Hinderniß und Aufenthalt in den Weg! Die armen Menschen! Vielleicht liegen sie hinter jenem Felsen, mit keuchendem Athem, mit ermüdeten, geschundenen Gliedern, bei jedem Laute, bei dem leisen Ziehen des Windes durch die Blätter der Bäume einen Verfolger, einen Verräther ahnend, und nun angstvoll, mit der Angst des Todes bereit zu der wilden Hetzjagd gegen sie, die ihnen den Tod bringt, oder – und wäre es nicht schlimmer, als der Tod? – die Rückkehr in ihre entsetzliche Gefangenschaft!“

„Hm, Fräulein,“ sagte der Student, und er sagte es verlegen und wie in seiner Verlegenheit nicht recht wissend, was er sagen solle, „hm, Fräulein, aber warum sollten denn die Flüchtlinge ihren Weg gerade hierher genommen haben?“

„Warum nicht?“ rief das Fräulein hastig und eifrig.

Zwei Blicke hatten sich unwillkürlich nach ihr umgewandt. Der finstere Mann sah sie mit einer drohend aufflammenden Gluth seiner großen, schwarzen Augen an. Die blasse Frau hatte einen Blick plötzlichen Erschreckens auf sie geworfen. Die Frau sah wieder schnell vor sich nieder. Der Mann ließ den drohenden Blick forschend auf den Studenten neben dem Fräulein gleiten; er schien nachzusinnen, ob er den jungen Mann schon irgendwo gesehen habe.

„Um des Himmels willen, schweigen wir von der Festung,“ flüsterte der Student seiner Nachbarin zu.

Das Fräulein saß blaß da. Der flammende, drohende Blick des finsteren Mannes hatte sie erschreckt. Sie antwortete dem Studenten nicht; sie sprach kein Wort mehr. Aber lange konnte sie das nicht aushalten. Der Wagen fuhr den Weißen Stein hinan. Der Weg führte zwar in bequemen Windungen zu der Höhe. Aber der Berg war hoch, und die vier starken Pferde vor dem Wagen mußten doch zuweilen Halt machen, um zu verschnaufen.

„Die armen Thiere!“ sagte das Fräulein. „Onkel!“ rief sie nach der vordersten Bank hin, „erlaubst Du, daß wir jungen Leute zu Fuße den Weg zur Höhe machen? Mein Herr Nachbar, der Gustav und ich?“

„Prachtmädel, und auch ich bin dabei!“ rief der kleine dicke Herr zurück, der auch gegen Thiere gutmüthig war.

„Mein Herr,“ sagte der Domherr zu seinem Nachbar, „da werden auch wir Beiden nicht zurückbleiben dürfen.“

Der finstere Mann mußte mit aufstehen. Er warf einen zweifelhaften Blick auf seine Frau. Sie mochte ihn verstehen. Auch sie wollte sich erheben.

„Wir zwei Frauen bleiben,“ sagte mit ihrer ruhigen und sicheren Entschiedenheit Frau Milden.

Die zwei Frauen blieben in dem Wagen, der weiter fuhr. Die Anderen hatten ihn verlassen und gingen neben ihm her. Dem Fräulein war die große Begleitung wohl nicht recht. Sie hatte den Studenten so viel zu fragen; der Onkel wich nicht von ihrer Seite; der finstere Herr sah den Studenten mißtrauisch an. Aber sie wußte sich zu helfen. Sie kannte den braven Onkel und dessen Neugierde, und was sie von dem Studenten wissen wollte, das durfte, ja mußte am Ende auch der Onkel erfahren. Sie nahm den kleinen dicken Herrn auf die Seite.

„Onkel, der Student hat mir etwas sehr Wichtiges und Geheimes zu erzählen.“

„Potz alle Tausend – und das darf ich wohl nicht hören und da soll ich Dich allein mit ihm lassen?“

„Nein, Sie sollen es gerade hören, aber unser finsterer Reisegefährte nicht.“

„Und warum der nicht?“

„Weil es gerade ihn angeht. Der Student weiß, wer er ist.“

„Ah, ah, Idchen, und Deine Bitte?“

„Sie möchten den Gustav bitten, daß er mit dem Domherrn ihn in Beschlag nimmt.“

„Das soll auf der Stelle geschehen, mein Kind.“

Herr Milden sprach ein Paar leise Worte mit Herrn Gustav.

Der junge Mann sprang zu dem finsteren Herrn, und der kleine dicke Herr kehrte zu der Braut zurück. Fräulein Ida wandte sich an den Studenten.

„Herr Student, warum durfte ich vorhin die Festung nicht bewundern?“

„Sprechen Sie leiser, Fräulein. Ich bitte Sie. Um jenes finstern Herrn willen!“

„Soll ich noch leiser sprechen?“

„Ich bitte Sie darum.“

„Und durfte ich auch vorhin nicht bewundern?“

„Sahen Sie nicht –?“

„Seine drohenden Blicke? O ja. Aber ist er denn so gefährlich?“

„Er hat wenigstens künftig mein Schicksal in der Hand.“

„Potz Wetter – er sieht freilich beinahe aus wie ein Scharfrichter; aber Sie sehen nicht aus wie ein armer Sünder.“

„Nein, nein, – aber ich bin Jurist und vorzugsweise Criminalist, und da wird er künftig mein Vorgesetzter werden –“

„Und da fürchten Sie sich jetzt schon vor ihm, freier, deutscher Student?“

„Man will doch seine Carriere machen, Fräulein. Warum hätte man sonst studirt?“

„Sie werden sie machen. Wie heißt der Herr?“

„Es ist der Herr Oberstaatsanwalt von Rachenberg.“

„Potz – die Oberstaatsanwälte sind ja wohl die Vettern des Richters?“

„Idchen, Idchen,“ lachte Herr Milden, „weißt Du, wer früher der Vetter des Richters hieß?“

„Nein, Onkel. – Aber erzählen Sie von ihm, Herr Student.“

„Sie werden jetzt begreifen, Fräulein, warum er Ihnen jene Blicke zuwarf, als Sie Mitleid mit den entsprungenen Gefangenen zeigten.“

„Dürfen denn Oberstaatsanwälte kein Mitleiden haben, nicht einmal dulden?“

„Hm, Fräulein, der Oberstaatsanwalt von Rachenberg hat jene Festung bevölkern helfen. Es sitzen manche Staatsgefangene dort, Staatsverbrecher, und er hat die Processe gegen sie geführt, und er ist ein sehr strenger, er ist, ich möchte sagen, ein leidenschaftlich strenger Beamter.“

„Hm,“ meinte Herr Milden, „ich denke, leidenschaftlich soll nie ein Beamter sein.“

„Sie wollen erwägen, Herr Milden,“ sagte der Student, „ich sprach nur von der Leidenschaftlichkeit seines Rechtsgefühls.“

Herr Milden schüttelte den Kopf. Er verstand das wohl nicht.

„Sie können sich also erklären,“ fuhr der Student zu dem Fräulein fort, „daß es ihm nicht sehr angenehm sein müßte, wenn ein paar Staatsgefangene entsprungen wären, zumal wenn –“

„Warum fahren Sie nicht fort, Herr Studiosus?“

„Sie werden mich doch nicht verrathen?“

„Seien Sie beruhigt.“

„Nun, Sie haben seine blasse Frau gesehen?“

„Sie fährt ja noch vor uns, mit meiner Tante.“

(Fortsetzung folgt.)
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