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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

No. 23. 1864.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Zeuge.
Von J. D. H. Temme.


1. Ein eifersüchtiger Ehemann.

„Es giebt viele unglückliche Herzen,“ sagte die schöne Frau.

„Geschöpfe, liebe Emilie,“ unterbrach sie ein kleiner dicker Herr, der Gemahl der schönen Frau.

Sie blickte unwillkürlich auf seine wohlgenährte Gestalt und ein Lächeln wollte spöttisch über ihre schönen Lippen gleiten; es wurde schmerzlich. „Nicht jedes Geschöpf fühlt,“ sagte sie, „aber jedes Herz und besonders den –“

„Den Schmerz, wolltest Du sagen, Emchen,“ lachte der kleine Herr. „Es hätte sich gereimt, aber richtig wäre es doch kaum in allen Fällen gewesen, mein Engel.“

„Wir wollen darüber nicht streiten, Arthur,“ erwiderte die Frau. Der kleine dicke Herr hieß Arthur. Die Frau wandte sich wieder an den Domherrn, zu dem sie die Worte gesprochen hatte: „Es giebt viele unglückliche Herzen.“ „Aber wie wenige,“ sagte sie jetzt, „wissen ihr Unglück zu tragen!“

„Wie viele müssen es dennoch tragen!“ sprach der Domherr.

„Dann sind sie nicht mehr unglücklich.“

„Auch jenes arme Herz nicht, von dem unser Gespräch ausging?“

Der Domherr zeigte auf eine schöne, blasse junge Frau. Sie saßen Alle unter einer geräumigen Veranda. Der Domherr, die schöne Frau, mit welcher er sprach, und ihr Mann hatten einen kleinen Tisch in der Mitte eingenommen. Entfernter von ihnen saßen andere Gäste des Hotels. Ganz hinten in einem Winkel war die schöne, blasse junge Frau, auf die der Domherr gezeigt hatte. Die Dame, mit welcher der Domherr sich unterhielt, war nicht mehr jung, sie konnte stark über die Mitte der dreißiger Jahre hinaus sein. Um so frischer hatte ihre Schönheit sich erhalten. Auch der Domherr war kein junger Mann mehr; er hatte die vierziger Jahre sicherlich angetreten. Der kleine, dicke Gemahl der Dame – bei ihm kam es wohl auf das Alter gar nicht an – sah frisch und blühend aus, denn von tiefen Auf- und Erregungen wußte er ja nichts.

Die Veranda befand sich zur Seite des großen, eleganten Gasthofes, der eine reizende Lage an dem Abhänge eines Hügels hatte. Von der Veranda aus genoß man einer wundervollen Aussicht über ein weites Thal, über einen klaren, breiten Fluß, der es durchströmte, über Dörfer und Landhäuser an seinen Ufern, in die waldigen und zackigen Berge jenseits des Thales, und auf die Dörfer und Landhäuser, die auch an und auf ihnen angebaut waren. Ganz hinten links auf einem hohen Felsenvorsprung des Gebirges lag eine Festung.

In das Thal, über den Strom, der es durchschnitt, auf die Berge jenseits waren die Blicke der blassen jungen Frau gerichtet. Da hinten auf den Mauern und Zinnen und Thürmen der Bergveste blieben die Augen haften, welche trüber und trüber wurden, je länger sie dahin blickten, und die zuletzt nichts mehr sahen, als die hohen Mauern, die kantigen Zinnen, die spitzen Thürme.

Sie war so schön, die blasse Frau mit den prächtigen, dunklen Augen, aus denen die Thränen sich hervordrängen wollten und nicht durften; sie war so schön mit ihrem Schmerz zwischen dem rothen Flieder und dem bunten Geisblatt, die das Geländer der Veranda durchzogen.

Plötzlich fuhr sie erschreckt auf. Ein junger, hübscher Officier war in den Raum eingetreten, hatte sie bemerkt, und war im Begriffe, auf sie zuzuschreiten. Wie sie sich von ihm abwenden wollte, sah sie einen zweiten Mann ihm folgen; vor ihm war sie erschrocken. Er war ein Mann in der Mitte der dreißiger Jahre, groß, wohlgewachsen, die Gesichtszüge regelmäßig, aber die Miene finster, der Blick der großen, schwarzen Augen unheimlich lauernd und stechend, die Farbe des Gesichtes grau. Er hatte die blasse Frau gesehen, wie sie plötzlich ihn erblickte und zusammenfuhr, wie sie in demselben Moment von dem Officier sich abwandte; er hatte gesehen, wie der Officier sich ihr nahen wollte. Er biß die schmalen grauen Lippen zusammen und in den dunklen Augen zuckte ein wildes Feuer auf, welches die tief und dicht herunterhängenden schwarzen Augenbrauen nur halb verbargen. Er schritt langsam, gemessen auf die Frau zu. Er wollte vor den Anwesenden ganz verbergen, was in seinem Innern vorging; er hatte dazu vollständig die Gewalt über sich. Allen konnte er es dennoch aber nicht verbergen.

„O,“ sagte die schöne frische Frau zu dem Domherrn, „o, sie ist doch ein armes, unglückliches Herz.“

„Ja, das ist sie,“ erwiderte der Domherr.

„Und was wird daraus werden?“

„Das Ende aller Dinge.“

„Der Tod?“

„Kann sie leben?“

„Ja. Muß nicht –“

Die schöne Frau sah sich nach ihrem Manne um, der zur Seite gegangen war.

„Muß nicht so manches Herz leben?“ sagte sie dann, aber leise, und durch die frischen Rosen ihrer Wangen zuckte ein schmerzliches Lächeln.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 353. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_353.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)