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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

und die Ursachen der Sünden sind die Schauspiele; daher sind die Ursachen der Pest die Schauspiele.“

Der Magistrat von London, Lord-Mayor und Aldermen, nahmen dieses Argument auf. In einem sehr gelehrten Actenstück dieser Körperschaft wird versichert, daß während der Pest zu spielen Ansteckung verbreite, und daß außer der Pest zu spielen die Pest erzeuge. Es ward demgemäß angeordnet, daß die Schauspieler – mit Ausnahme derjenigen, welche in Ihrer Majestät Diensten ständen – nur dann Erlaubniß haben sollen, zu spielen, wenn „die Stadt gesund sei“, d. h. wenn während dreier Wochen nacheinander nicht mehr als 50 Leute in der Woche gestorben wären. Dann sollte am Sonntag überhaupt nicht und an den Wochentagen nicht später gespielt werden, „als daß ein Jeder von den Zuschauern in seiner Wohnung vor Sonnenuntergang oder wenigstens vor Dunkelwerden zurück sein kann.“ – Diese sehr weisen Verordnungen eines hochlöblichen Magistrats hatten keinen andern Effect, als daß die Schauspielhäuser nicht in der City, sondern an den Außenrändern derselben, meistens am Wasser gebaut wurden, und daß Ihre Majestät und Ihrer Majestät große Lords die armen verfolgten Schauspieler in ihren „Dienst“ nahmen und mit ihrer Schärpe gegen die Weisheit und Vorsicht der Väter der Stadt deckten. In dieser ihrer Eigenschaft trugen die Schauspieler jener Zeit, gleich den andern Dienstleuten derselben, die Wappen und die Farben ihrer Patrone; wer sich nun an ihnen vergriff, der bekam es mit den Lords von Ihrer Majestät Haushalt zu thun! Die Mitglieder von Shakespeare’s Truppe und Shakespeare selber trugen als „Diener Ihrer Majestät“ scharlachfarbene Mäntel mit Sammtaufschlägen.

Die Königin Elisabeth war eine große Freundin und Beschützerin des Schauspiels. Sie und ihr Hof hielten es für keine Sünde, nachdem sie am Vormittag ihren gehörigen Kirchgang gehabt, die Sonntage in einer Komödie zu beschließen, und in ihrer Sorge für das Vergnügen der niedrigern Classen ermunterte sie dieselben, ihrem Beispiele zu folgen. Damals war der Sonntag noch nicht jene Wüste von Scheinheiligkeit und Langeweile, die der heutigen Bevölkerung von London nach der Woche Last und Mühe keine andere Erholung gönnt, als die Kirche und das Ginhaus. Damals war der Sonntag der beste Tag für die Theater in London, und das Volk strömte hinein, um Shakespeare zu sehen und Shakespeare zu hören. – Die Königin für ihre Person ging zwar niemals in die Theater, aber in ihren Palästen zu Whitehall, in Richmond und in Windsor fanden beständig Vorstellungen statt, und einige von Shakespeare’s Stücken wurden zuerst vor Ihrer Majestät aufgeführt. Eine ziemlich glaubwürdige Anekdote versichert uns, daß wir „die lustigen Weiber von Windsor“ nur dem Wunsche der Königin zu verdanken hätten. Sie, die, wie alle Welt damals, eine große Bewunderung und Freundschaft hegte für Sir John Falstaff, wäre sehr neugierig gewesen, das Benehmen des „feisten Ritters“, nachdem sie ihn immer nur unter Männern, beim Becher und in der Schlacht gesehen, nun auch einmal in einem Liebesverhältniß und bei Damen kennen zu lernen. Dieses war eine Aufgabe für Shakespeare’s Humor! Man sagt, daß er nicht länger als vierzehn Tage gebraucht habe, um sie auszuführen. Und so ging, kurz vor Elisabeth’s Tode, Ende des Jahres 1602, die neue Komödie in Scene, wahrscheinlich im Schlosse von Windsor, in welchem die Königin damals vorzugsweise residirte und nach welchem auch der Dichter mit feiner Courtoisie sein Stück nannte. Eine freilich weniger glaubwürdige Anekdote fügt hinzu, die Königin habe über die Streiche der lustigen Weiber und das Mißgeschick ihres ritterlichen Galans, der unter einem Haufen schmutziger Wäsche in die Themse geworfen wird, so stark gelacht, daß sich in Folge davon ein Krampf und ein Husten einstellte, der tödtlich für sie geworden sei.

Aber noch steht die Sonne hoch und unser Schifflein schwimmt auf der Themsewoge. Dort auf dem rechten Ufer ist Bankside, in Shakespeare’s London der Sitz des Vergnügens, bunt von Wirthshausschildern und lustig von Musik. Dort ist der Bärengarten und dort sind fünf von den sieben Theatern Londons. Da, wo hinter Southwark-Bridge in unserm London ein gigantisches Heer von Schornsteinen Tag und Nacht schwarzen Qualm ausstößt, welcher die Atmosphäre verfinstert, wo ein immerwährendes Dröhnen ist von Frachtkarren und ein beständiger Geruch von Hopfen und Malz und wo an rußbedeckter Mauer ein Bret die Inschrift trägt: „Barclay’s und Perkins’s Brauhaus“ – an derselben Stelle, dreihundert Jahre früher und unter dem blauen Himmel von Shakespeares London steht sein Theater, welches den Herkules mit der Erdkugel zum Zeichen hat und nach demselben das Globe-Theater heißt. Es ist ein sechseckiges Gebäude von Holz, fast wie ein Belagerungsthurm mit vielen Fenstern ringsum, die wie Schießscharten aussehen, mit zwei Breterhäuschen oben und einer Flaggenstange. Aus dem einen Breterhäuschen tritt jetzt, wo die Glocken von London dreiviertel drei schlagen, ein phantastisch gekleideter Mann mit einer Trompete, um das erste Signal zu geben. Von allen Theatern in der Runde schmettern die gleichen Töne, die sich in der Luft begegnen und die Schiffe, von denen der Themsespiegel bedeckt ist, und die Reiter, welche sich über die Brücken bewegen, zu größerer Eile treiben. Aber bis es drei Uhr ist, wird der Trompeter noch zweimal blasen, und dann mit dem Vollschlag und dem letzten Tusch wird die Vorstellung beginnen und an dem Flaggenstock wird ein rothseidenes Bannertuch erscheinen.

Inzwischen hat Boot um Boot am Ufer angelegt, das Gewieher und Getrappel zahlreicher Rosse ist rings um das Theater, und Alles drängt dem Eingang und der Casse zu – der junge Cavalier mit Degen und Federhut, der gravitätische Citymann, die sittig-schöne Bürgerin, der Gelehrte und der Bücherwurm von Klein-Britannien, der Raufbold aus den Schlupfwinkeln des Strandes, der Jurist vom Tempel, der Land-Gentleman, dessen Halle daheim voll ist von Falken und Dachshunden, der Lehrjunge, der Werkstatt entlaufen, und der Matrose, frisch noch vom Theer- und Seegeruch: sie Alle sind Shakespeare’s Publicum.

Die Eintrittspreise sind sehr verschieden. Die billigsten Plätze, damals wie jetzt, sind auf der Gallerie: sie kosten nach unserm Geld etwa einen Silbergroschen. Die eigentliche Masse des Publicums drückt sich im Parterre zusammen, welches im Globe wie in den übrigen öffentlichen Theatern der „Hof“ (yard) heißt. Der „Hof“ hat kein Dach und keine Sitzplätze: hier herrscht unbegrenzte Freiheit. Regen und Sonnenschein kommen nach Belieben, und für zwei Silbergroschen hat jeder britische Unterthan die Befugniß, hier zu sehen, zu drängen und sich drängen zu lassen, Aepfel zu essen, Nüsse zu knacken, Bier zu trinken, Karte zu spielen und das Schauspiel auszuzischen. In dieser Beziehung, wenn auch in keiner andern, standen die „Gründlinge“ in großem Ansehen: ihr Beifallsklatschen entschied über den Erfolg der Stücke. Aber sonst galten sie weder für respectabel, noch für kritisch zurechnungsfähig, und der eigentlich gebildete Theaterbesucher nahm sich wohl in Acht, unter sie zu gerathen. Für etwa 10–20 Silbergroschen nahm er seinen Sitz in einem von den „Zimmern“, wie die Logen in Shakespeare’s Theater hießen. Zuweilen miethete er sein „Zimmer“ für die ganze Saison und hatte den Schlüssel in seiner eigenen Tasche.

An Taschendieben war auch in den damaligen Schauspielhäusern kein Mangel; aber die Art ihrer Bestrafung war originell: wenn man sie auf frischer That ergriff, so wurden sie ohne Weiteres auf die Bühne gebracht und an einen Pfahl gebunden, und dort boten sie sowohl dem Spotte als den Nußschalen der „Gründlinge“ ein würdiges Ziel. Ueberhaupt war damals die Bühne weit mehr als in unsern Tagen für das Mitspiel des Publicums berechnet. Sie war nur zum kleinsten Theil für die Schauspieler bestimmt; mehr als die Hälfte diente den Dandies, den Schöngeistern und den Männern von Fach und Bildung zur Schaustellung ihrer eigenen Person oder ihrer weißen Hand oder ihrer seidenen Mantel. Für ein kleines Trinkgeld hatten sie hier ihren dreibeinigen Stuhl oder sie warfen sich, so lang sie waren, auf den mit Binsen bestreuten Boden. Der vollendete Stutzer erschien niemals, bevor die Trompete zum dritten Male geblasen, dann, wie ein Zeitgenosse beschreibt, „schritt er sogleich zu dem Thron der Bühne, ich meine nicht in die Herren-Zimmer (die Logen), welche Nichts mehr sind, als die Vorstädte der Bühne, sondern direct auf die Binsen, auf welchen die Komödie spielen soll.“ Die Zeichen des Beifalls und des Mißfallens waren in Shakespeare’s Theater wie in den unsern. Das erste Beispiel des Hervorrufs freilich sollte erst mehr als hundert Jahre später und Einem begegnen, der es sich herausnahm, Shakespeare mit einem „betrunkenen Wilden“ zu vergleichen, nämlich dem „Herrn von Voltaire“ bei der ersten Ausführung seiner „Merope“ im Jahre 1743.

In Shakespeare’s Theater gab es weder einen Hervorruf, noch eine Kritik, der unmittelbare Beifall entschied Alles. Zwar hatten die Modeherren, welche auf der Bühne saßen, ihre Notizbücher,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_262.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)