Seite:Die Gartenlaube (1864) 123.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

die Gunst des Brigadiers durch eine Inclinations-Heirath verscherzt hatte.

„Bleiben Sie mir mit der dummen Phrase vom Halse,“ schrie der Oberst. „Sie sind ein alter verliebter Kater, eine scrophulöse Thränenfistel, den der liebe Gott in seinem größten Zorn zum Artilleristen gemacht hat.“ Und sich dicht vor ihn hinpflanzend, fragte er: „Darf ich wohl wissen, warum Sie das Ihrer Weisheit und Fürsorglichkeit anvertraute arme Geschütz nicht revidirt haben?“

„Die Zeit war zu knapp. Ich bin Futtermeister der Batterie und –“

„Und ein fauler Millionenhund,“ unterbrach ihn der Oberst, „dem ich die Tressen von der Uniform herunterreißen lassen müßte. Ich kann es mir lebhaft vorstellen, wie es gekommen ist, daß Ihnen die Zeit zu knapp wurde. Da mußte Ihnen die geliebte ehehälftliche Thusnelda vor dem Ausrücken noch einmal Hektor’s Abschied vorerzählen, der liebenswürdige Erstgeborne konnte sich nicht trennen von der väterlichen Heldenbrust, das Nesthäkchen, die kleine Victorine, mußte des Königs Rock noch zum letzten Male einseifen, und als Sie sich endlich aus den Armen Ihrer unterofficierlichen Nachkommenschaft losgerissen, da war es freilich zu spät zu einer eingehenden Revision; die Batterie war bereits bespannt, und Sie meldeten flottweg, daß das zweite Geschütz marschfertig sei. Das kommt davon, wenn man den Soldaten das Heirathen gestattet und mit Kindern beschweren läßt, die – – – “

„Nun, nun, die muß der Kaiser ernähren;
Die Armee sich immer muß neu gebären!“

ließ sich plötzlich eine hellklingende Stimme mit vortrefflicher Accentuation der Wallenstein’schen Verse an seiner Seite vernehmen.

(Schluß folgt.)




Die Mysterien des Menschenschädels.[1]
Eine phrenologische Beurtheilung von Gustav Scheve.

Beim Baue einer Eisenbahn wird zufällig eine große Zahl alter Schädel ausgegraben. Diese, von den Arbeitern zusammengetragen, gleichen sich alle, jeder macht als Bild des Todes denselben Eindruck auf die Umstehenden. Wer möchte sagen, welcher Schädel einem Könige oder einem Bettler, einem guten oder einem bösen Menschen, einem Krieger oder einem Manne des Friedens angehörte? Unter den Anwesenden sind einige Naturforscher, welche über das Alter der Schädel ihre Ansicht äußern, männliche und weibliche unterscheiden etc. Kein Urtheil über den Geist, dem die Schädel als Hülle dienten, wird gehört. Da tritt ein Phrenolog hinzu. Einige Schädel fesseln vor andern seine Aufmerksamkeit. Er äußert gegen einen Freund, daß sich bei einem Schädel der Zug des Stolzes, bei einem andern der der Gutmüthigkeit, oder der Eitelkeit, oder des Muthes ausgesprochen finde. Die Arbeiter schütteln über den Herrn die Köpfe, die Gelehrten betrachten ihn kaum als einen Mann der „Wissenschaft“. Niemand hält das, was er sagt, für wahr.

Unter den Schädeln findet sich auch die bloße untere Hälfte eines solchen vor. Der Schädel ist in seinem größten Umfange durch eine Säge getheilt, und die obere Hälfte, die ganze Schädelwölbung, fehlt. Ein Arbeiter reicht dem Phrenologen lächelnd das Schädelstück dar. Sein Freund fragt ihn, ob sich auch hieraus etwas über den Charakter bestimmen lasse. Er erhält die Antwort, daß das phrenologische Urtheil immer nur auf der Vergleichung aller Gehirntheile unter sich beruhe, daß es daher hier nur ein äußerst mangelhaftes sein könnte. – Dies Beispiel möge dem Leser die Bedeutung und zugleich die Schwierigkeit des Problems veranschaulichen, um dessen Lösung mich vor Kurzem der Herausgeber der Gartenlaube ersuchte, als er mir auf einem Blatte die 20 Kopfumrisse der umstehenden Abbildung mit dem Wunsche zusandte, „diese Schädelumrisse einer Reihe von Männern phrenologisch beurtheilen und ihm dann gestatten zu wollen, den Befund meiner Untersuchung in seiner „Gartenlaube“ veröffentlichen zu dürfen.“

Das Urtheil nach unserer Umrißlinie gleicht nämlich dem nach jener unteren Schädelhälfte, ist aber noch um Vieles schwieriger und beschränkter. Denn dort, wo ich das Stück des Kopfes selbst vor mir habe, kenne ich genau die Stelle des Umrisses, hier aber weiß ich nicht, wo – ob etwas höher oder niedriger – der Umriß genommen ist. Ich habe also etwas als Grundlage für mein Urtheil, aber ich weiß nicht bestimmt, was ich habe, und habe somit nichts Wissenschaftliches. Ebenso schlimm ist es, daß ich hier nicht so, wie dort, die Stelle des Gehörgangs kenne. Der Gehörgang scheidet Vorderkopf und Hinterkopf, und seine Kenntniß ist durchaus nöthig für die Beurtheilung einiger unmittelbar oder mittelbar vor oder hinter ihm gelegener Organe. Die Aufgabe war also eine sehr mißliche, aber eben in ihrer Schwierigkeit lag auch ein so großer Reiz für mich, daß ich dem an mich gestellten Ansinnen willfahrte. Jedoch, nehmen wir die Umrisse zur Hand, suchen wir trotz aller Schwierigkeiten den todten Bildern Athem und Leben einzuhauchen.

(1. A.)

Der Kopf 1., groß und bedeutend, ist sehr geeignet, den Leser in die Sache einzuführen. Unsere Umrißlinie, etwa da genommen, wo das Band des messenden Hutmachers den Kopf berührt, trifft (auf jeder Seite) zehn Organe. Vier von der Mitte der (oberen) Stirne bis zu den (vorderen) Schläfen einschließlich: Vergleichungsvermögen, Schlußvermögen (an der Stelle der bisweilen gefundenen Stirnhöcker), Sinn für Scherz, Idealität (an den Schläfen). Dann drei bis zur breitesten Stelle unseres Kopfes einschließlich: Erwerbssinn, Verheimlichungssinn, Thätigkeits- oder „Zerstörungssinn“ (gerade über dem Gehörgang). Zuletzt noch drei: Kampfsinn, Anhänglichkeit, Kinderliebe.[2]

Um zu erkennen, ob bei unserem Kopfe eines oder einige dieser Organe groß oder klein sind, müssen wir ihn mit der mittleren Kopfgestalt vergleichen. Diese ist für die Linie unseres Umrisses, – welche uns natürlich hier allein beschäftigt, – die Eiform, deren schmälere Seite den Vorderkopf, deren breitere den Hinterkopf bildet. (Etwa wie die Köpfe 5 und 20.) Ein erster Blick zeigt uns, daß unser Kopf bedeutend von der Eiform abweicht. Um diese Abweichung im Einzelnen kennen zu lernen, zeichnen wir mit einem Bleistift – am Besten nicht blos in Gedanken – die Eiform auf unseren Kopfumriß. In der Mitte der Stirne (bei Vergleichungsvermögen) beginnen wir einen über unseren Umriß etwas hinausreichenden Bogen und setzen diesen seitwärts innerhalb so fort, daß wir einen großen Theil von Schlußvermögen und Idealität abschneiden. Bei Erwerbssinn läuft der Bogen wieder außerhalb, um bald, bei Thätigkeitssinn, abermals


  1. Bei einem neulichen Besuche in einer der größten deutschen Hutmanufacturen theilte uns der freundliche Besitzer derselben eine Reihe von Schädelumrissen theils berühmter, theils in weiten Kreisen bekannter und vielgenannter Männer mit, deren Kopfformen als die von stehenden Kunden des Etablissements für eventuelle Hutbedürfnisse aufbewahrt werden. Wir waren frappirt über die hier und da wahrhaft wundersamen und grotesken Gestalten, Ausbauchungen, Ecken und Knüllen, welche der menschliche Schädel bilden kann, und baten um die Erlaubniß, einige der merkwürdigsten und charakteristischsten dieser durch genaue Maßnahme gefundenen Kopfformen – soweit sich an dieselben die Namen bekannter Persönlichkeiten knüpfen – gewissermaßen als ein phrenologischcs Problem in der Gartenlaube veröffentlichen zu dürfen. Dies geschieht denn hiermit. Zugleich lassen wir die Beurtheilung eines geistvollen Phrenologen folgen, dem wir die Schädelcontouren zur Begutachtung einsandten, ohne ihm die Männer zu nennen, deren Köpfe sie umzeichnen. Zur Vergleichung seiner phrenologischen Aussprüche mit der öffentlichen Meinung, wie sie Bedeutung, Wirksamkeit und Erfolge dieser Männer festgestellt haben, geben wir die Namen derselben am Schlusse unserer Nummer, werden uns aber erlauben, bei dem einen und dem andern ein Fragezeichen beizusetzen.
    D. Red. 
  2. Statt Sinn der Kinderliebe oder Organ des Sinnes der Kinderliebe. Ich habe mir überall diese Abkürzungen erlaubt. Für den Leser, welchem die Phrenologie unbekannt ist, nenne ich hier noch die hauptsächlichsten der übrigen Sinne. Organe an der unteren Stirn: Gegenstandssinn, Gestalt- oder Formensinn, Farbensinn, Zahlensinn, Thatsachensinn, Ortssinn, Ton- oder Musiksinn, Kunst- oder Bausinn, Sprach- oder Wortsinn. Organe auf dem Oberkopfe: Wohlwollen, Nachahmung, Sinn für Neues oder Wunderbares, Verehrung, Hoffnung, Festigkeit, Gewissenhaftigkeit, Selbstgefühl, Beifallsliebe, Einheitssinn oder Concentrationsgabe.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_123.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)