Seite:Die Gartenlaube (1863) 783.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Die schauderhaftesten Unthaten, die unbegreiflichsten Diebstähle, die kühnsten Hauseinbrüche, von denen Sie in unsern Londoner Blättern lesen, werden von diesen Urlaubsmännern begangen, und von hundert auf Karte entlassenen Sträflingen enden neunundneunzig früher oder später hinter Schloß und Riegel oder auf dem Dache des Horsemonger-Lane-Kerkers drüben über der Themse. Sie kennen doch Horsemonger-Lane, Herr?“

Das kannte ich freilich; hatte ich doch einmal im ersten Tagesgrauen einem armen Sünder dort die Schlinge um den Hals legen sehen und schauderte noch, wenn ich an das Schauspiel und mehr noch an sein – Publicum dachte.

Der Constabler war auf sein Thema gekommen und blieb plaudernd neben mir stehen, während sich der ambulante Wichsjunge nun meinen Penny erbürstete. Auch unsere Wege waren so ziemlich die gleichen. Der Polizeimann hatte jetzt auf einige Stunden Ruhe und begab sich nach seiner Wachstube in Scotland-Yards, dem Centralamte der Londoner Polizei, mit Ausnahme der Schutzmannschaft der City, die ihr abgesondertes und selbständiges Corps bildet und unter dem Lordmayor von London steht. Wir gingen also zusammen.

Die Geschichten meines Begleiters, der schon manches Jahr Langfinger aller Art, nach englischer Häscherweise, am Rockschooße in die ihrer wartenden festen Lustschlösser spedirt hatte, waren mir sehr interessant, da sie mir einen Einblick in eine Industriewelt gewährten, wie sie in solcher Ausdehnung, Arbeitsteilung und Organisation eben nur in London zu Hause ist: – die große Welt der Diebe und Diebinnen. Ehe ich mir es versah, hatten wir den Hof Scotland-Yards erreicht. Hier holte der Blaufrack sein dickes Notizbuch aus der Brusttasche und überreichte mir, wie ein vollkommener Gentleman, seine Karte. Ich gab ihm die meinige, versteht sich.

„Wenn Sie mit mir und meines Gleichen fürlieb nehmen wollen,“ sprach er, während wir uns landesüblich die Hände schüttelten, „so wird es uns sehr freuen, Sie einmal in unserem Club zu sehen. Uebermorgen habe ich Abend und Nacht frei und trinke dann in Gesellschaft von ein paar Cameraden meinen Branntwein mit heißem Wasser im rothen Löwen drüben in Westminster-Road. Fragen Sie vorn am Schenktische nur nach mir; die alte Mrs. Archer, unsere dicke Wirthin, wird Sie dann schon in unsere Hinterstube führen. Freilich ’s ist kein Club, unserer, wie das Athenäum oder der Reformclub, auch nicht einmal wie der Wellington“ – setzte er lächelnd hinzu – „aber, glauben Sie mir, Sie sollen Manches hören, von dem Sie sich nichts träumen lassen. Ich sage Ihnen, das Stehlen ist hier in London eine Kunst, zu der kein geringer Grad von Kopf und Geschicklichkeit und Geistesgegenwart gehört, und die Diebe sind nichts weniger als Faulenzer und Müßiggänger. Aber wir, Herr, wir sind doch noch feiner, als sie, und kommen am Ende hinter alle ihre Schliche und Kniffe. Guten Abend, Herr. Sehr feucht heute.“

„Guten Abend, Herr. In der That sehr feucht,“ bestätigte ich. Ohne Wetterkritik kann man einmal in London weder sich bewillkommnen noch scheiden.

Es braucht keiner Versicherung, daß ich der Einladung pünktlich Folge leistete, die ich einem so eigenthümlichen Zufalle oder vielmehr meinem jungen Freunde vom Wichskasten verdankte.

Außer Mr. Simpson, so hieß mein neuer Gönner, saßen noch drei seiner Collegen in einem schlichten, doch englisch comfortablen Zimmer um den an’s Kamin gerückten Tisch, heute natürlich sämmtlich in Civil, „in plain clothes“ (einfachen Kleidern), wie der Brite sich ausdrückt. Die blanken Zinnkrüge mit dem dampfenden Wasser, die ebenso spiegelnden Nöselmaße für den Branntwein, die mächtigen Zuckerschalen und die stattlichen Glashumpen zeugten von der herzstärkenden Beschäftigung, mit denen die Herren ihre Clubmußestunden erholend ausfüllten. Man begrüßte mich mit so gentlemanischen Formen, als wäre ich in den Salon eines vornehmen Oberhausmitgliedes getreten, und nur das Gesprächsthema, auf welches ich bald die Unterhaltung zu lenken suchte, bekundete, daß ich vier abgefeimte, mit allen Praktiken ihres Handwerks gründlich vertraute „Diebesfänger“ vor mir hatte. Später erschien noch ein höherer Polizeibeamter, der Inspector eines gewissen Polizeidistrictes; hier aber war er nur Clubbist, alle Subordination und dienstliche Etiquette war zugleich mit dem Uniformcapot draußen im kleinen Vorzimmer abgelegt worden.

Wollte dem Fremden gegenüber auch Anfangs die britische Zurückhaltung, gepaart noch mit der sondirenden Vorsicht eines Standes, der ohne Unterlaß auf dem „Qui vive“ stehen muß, einigermaßen ihr Recht behaupten, – ein paar weitere Gläser Grogs und die Überzeugung mit keinem angehenden Langfinger zu thun zu haben, der etwa die polizeilichen Erfahrungen blos zu Studienzwecken entlocken und aushorchen wollte, setzten mein merkwürdiges Convivium bald in die mittheilsamste Stimmung. Wiederholte Besuche im stillen Club von Westminster-Road vervollständigten mein neuerworbenes Wissen, und wenn mir die Gartenlaube einige Spalten und ihre Leser ein Stündchen Geduld gewähren, so will ich nach den Erzählungen meiner Wirte von Scotland-Yards einen Begriff zu geben versuchen, zu welcher Vollendung die freie Kunst des Stehlens und ihre Technik in London gediehen ist.


Menschen, die uns wohlwollend von unseren Nothwendigkeiten oder von dem Ballast unserer Ueberflüssigkeiten befreien, giebt es überall, auch bei uns, und unsere Berliner Verwechsler von Mein und Dein bilden bereits ein recht stattliches Corps und haben schon halbwegs die Höhe ihrer Zeit und ihres Berufes begriffen und erreicht; allein ihren Londoner Brüdern und Schwestern sind sie bis jetzt sowohl an Kühnheit, als an Genialität und Raffinement bei Weitem noch nicht ebenbürtig geworden. Diese sind schöpferisch und unerschöpflich in ihren Mitteln und Wegen und Manipulationen, mit einem Worte groß in ihrem Genre, wie man auch sonst von diesem Genre denken mag. Auch die Pariser Gaunerschaft erreicht nur in einzelnen Spitzen die Kunstvollendung der Londoner, das Gros der französischen Diebe muß vor dem englischen gedemüthigt die Segel streichen.

Vor Allem ist Methode in ihren Bestrebungen, das kann ihnen Niemand bestreiten. Mit einer unmethodischen, dem Zufalle, der glücklichen Chance überlassenen Praxis ihres Gewerbes würden sie rasch genug aus dem Felde geschlagen sein; „denn,“ meinte Mr. Simpson, „wir sind ihnen immer scharf auf den Fersen und glauben unser Handwerk auch nicht übel zu verstehen.“

„Und das Publicum kommt am Ende doch auch hinter die Manöver der Herren und Damen vom Langfingerthume?“

„Das Publicum? Gott im Himmel, es ist geradezu unbegreiflich, wie unschuldig, wie unwissend unsere Londoner, unsere Ladenhalter und Gewerbsleute z. B. sind, denen die Angriffe unserer Diebe doch vorzugsweise gelten, was die Schliche und Kniffe unserer Spitzbuben und Gauner betrifft. Tag für Tag tischen unsere Zeitungen Gaunerstücklein über Gaunerstücklein auf, und doch berückt der jüngste Neuling der edlen Zunft unsere Londoner Spießbürger, ohne seinen Witz nur im Geringsten anstrengen zu müssen, und die Diebstähle der verschiedenen Kategorien, die täglich von uns entdeckt werden, zählen nach Hunderten, die überhaupt verübten aber gewiß nach Tausenden! Freilich ist’s nicht so leicht, dem Spitzbubenvolke hinter die Coulissen zu sehen, denn im Allgemeinen wacht der Dieb mit der verzweifeltsten Sorgfalt über den Geheimnissen seiner Kunst, und es ist immer nur eine Ausnahme, wenn einer einmal aus der Schule schwatzt und die Corporation in Gefahr bringt. Reuige Mörder haben wir genug, reuige Diebe, welche rückhaltslos ihre Schuld und die Art gestehen, wie sie bei ihren Annexionen zu Werke gegangen, sind äußerst selten, jetzt mindestens, wo es ihnen auch bei uns in England nicht mehr an den Kragen geht.“

Wie zunächst eine strenge Sonderung nach den verschiedenen Gewerbszweigen, eine Gruppirung in fest abgegrenzte einzelne Classen besteht, wie der Hauseinbrecher nicht dem Taschendiebe, der Beutelschneider nicht dem Ladenspitzbuben in’s Gehege kommt, so scheint durchgehend als Handwerksusus festgehalten zu werden, daß der Mann in der Regel nur den Mann bestiehlt, nicht etwa deshalb blos, weil Männer gewöhnlich mehr Geld oder sonst das Nehmen lohnende Dinge bei sich tragen, als Frauen, sondern wirklich aus einer gewissen Ritterlichkeit, welche, vielleicht noch als Ueberbleibsel aus der Zeit der berühmten chevaleresken englischen Straßenräuber, den Londoner Dieb von Profession charakterisirt. Eine Frau zu berauben dünkt ihm gemein und ungalant, er überläßt sie seinen weiblichen Zunftgenossen, an denen kein Mangel vorhanden ist. Auch als die Garotte im höchsten Schwange war, wie selten hörte man da von garottirten Frauen! Denn lieber wird die Diebin zu allen erdenklichen anderen Mitteln ihre Zuflucht nehmen, ehe sie bei ihrem Opfer die Garotte anwendet. Aus eigener

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_783.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)