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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Der Kurfürst und der Geldfürst.
Novelle von Louise Mühlbach.
1. Der Prinzenknabe und der Judenjunge.

„Jetzt sind wir fertig, nicht wahr? Jetzt kehren wir in das Hotel zurück, um unser Diner einzunehmen?“

„Nein, mein Prinz, noch nicht, wir haben noch nicht alle Sehenswürdigkeiten der herrlichen Reichsstadt Frankfurt in Augenschein genommen, und da wir gleich nach dem Diner wieder abreisen müssen, so ist es nothwendig, daß wir vorher mit Allem zu Ende kommen.“

„Aber was giebt es denn noch weiter zu sehen?“ fragte der Prinz seufzend. „Ich versichere Sie, Herr Hofmeister, ich werde die Hälfte von dem vergessen, was ich gesehen habe, denn es ist zu viel, und meine Frau Mutter wird sehr erzürnt sein, wenn ich nichts von alledem behalten habe, was Sie mich sehen lassen.“

„Sie müssen Ihr Gedächtniß fleißig üben, mein Prinz,“ sagte der Oberhofmeister Baron von Emptich mit ernster Stimme. „Ein gutes Gedächtniß ist eine große Eigenschaft, namentlich für einen Fürsten, und da das Schicksal Sie einmal dazu bestimmt hat, ein regierender Herr zu werden, so müssen Sie vor allen Dingen Ihr Gedächtniß üben. Ein Fürst darf nichts vergessen, er muß das Größte, wie das Kleinste in guter Erinnerung bewahren.“

„So, Herr Hofmeister?“ fragte der Knabe, indem er seine blauen Augen mit einem scharfen, spöttischen Blick auf das edle ruhige Antlitz seines Erziehers heftete. „Ein Fürst darf nichts vergessen? Und haben Sie mir nicht erst neulich gesagt, daß ein Fürst gar kein Gedächtniß haben darf für Beleidigungen, die seine Unterthanen ihm angethan haben, daß er großmüthig sein und sich niemals rächen, sondern das ihm angethane Unrecht immer vergessen müsse?“

„Ich sagte nicht vergessen, sondern verzeihen, Prinz,“ erwiderte der Baron lächelnd. „Aber ich sehe, Sie haben in der That ein gutes Gedächtniß, und so zweifle ich denn auch nicht daran, daß Sie Alles behalten werden, was wir hier in Frankfurt in Augenschein genommen, und daß Ihr erster Ausflug in die Welt für Sie von Nutzen sein wird.“

„Aber sagen Sie mir nur, Herr Baron,“ fragte der Prinz, „wohin führen Sie mich eigentlich, was sind das für enge, abscheuliche Gassen, die wir hier passiren? Sehen Sie nur, da ist ja gar ein großes eisernes Thor mitten in der Straße angebracht? Und wie entsetzlich sieht es jenseits dieses Thores aus! Wo sind wir denn, Herr Baron, und was kann es hier in diesen abscheulichen, engen Gassen Besonderes zu sehen geben?“

„Prinz, etwas sehr Besonderes: das menschliche Elend,“ sagte der Baron feierlich, und indem er neben dem eisernen Gitter stehen blieb, das mit zwei geöffneten Flügeln in dem grauen, verschmutzten Thorpfeiler hing, faßte er die Hand des Prinzen, und schaute mit ernsten, liebevollen Blicken in das verwunderte, neugierige Gesicht des Knaben.

„Prinz,“ sagte er, „Sie sollen an diesem Tage die zweite große Lehre empfangen. Sie haben im Kaisersaale vorher die erste empfangen. Sie haben auf dem Balcon gestanden, wo der Kaiser die höchste irdische Herrlichkeit ausstrahlt, wo er, über die ganze übrige Menschheit erhaben, von Niemandem Gesetze empfangend, als von Gott und seinem Gewissen, in seiner Kaiserpracht sich dem Volke zeigt und von ihm mit lautem Jauchzen begrüßt wird. Auf diesem Balcon stehend, und Ihnen die Herrlichkeit, Größe und Pracht eines deutschen Kaisers schildernd, sagte ich Ihnen, Sie möchten eingedenk bleiben, daß auch der Kaiser nur ein Mensch sei, ein irrender, fehlender, schwacher Mensch, trotz seines Purpurs und seiner Erdengröße. Jetzt, da wir hier vor diesen düstern Pforten stehen, welche den Eingang bilden zu dieser schmutzigen Gasse, mit den schwarzen, häßlichen Häusern, jetzt, da wir den Gegensatz des Römers sehen werden, jetzt sage ich Ihnen, Sie mögen eingedenk bleiben, daß auch der Bettler ein Mensch ist, und daß vor Gott der Aermste und Unglücklichste eben so viel ist, und eben so viel bedeutet, als der reichste Herr und der stolzeste Kaiser. Sie sollen jetzt den Ghetto, die alte demüthige Judengasse von Frankfurt sehen.“

„Die Judengasse!“ rief der Knabe, indem er entsetzt einen Schritt zurücktrat. „Aber ich mag das nicht sehen, Herr Hofmeister, und es ist auch gar nichts Merkwürdiges dabei zu sehen, wie die alten, häßlichen Schacherjuden in ihren schmutzigen Häusern wohnen. Ich kann die Juden nicht leiden, denn ich weiß es ja, daß sie Alle schlechte, erbärmliche Menschen sind, deren Berührung schon entehrt, und die darum auch nicht mit den Christen in denselben Gassen oder Häusern leben dürfen. Jeder Jude ist ein Bettler, ein Geizhals, ein Schacherer und ein Betrüger.“

„Prinz Wilhelm,“ sagte der Baron streng, „erinnern Sie sich, daß auch der Erlöser der Menschheit, daß auch Jesus Christus ein Jude war. Kommen Sie, Prinz, Sie sollen die Judenstadt sehen, und Sie sollen von diesem Anblick Erbarmen und Milde lernen, Sie sollen sehen, wie die Vorurtheile der Menschen einen ganzen Volksstamm dem Unglück, der Erniedrigung, der Schande preisgegeben haben. Kommen Sie!“

Er nahm die Hand des jungen Prinzen und überschritt mit ihm die eiserne, hohe Schwelle, welche quer über die Straße von einem Thorpfeiler zu dem andern hinlief.

In demselben Moment sprang hinter einem dieser Pfeiler

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 769. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_769.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)