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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Als sie die Straße erreichten, begegneten ihnen viele Leute, welche die Frühmesse besuchen wollten. Sie warfen einen mitleidigen Blick auf Stanis. „Haben sie ihn endlich,“ sagte Mancher, „der hat sich schlecht gebettet.“ In einem Anger verzehrte eine Bäuerin mit ihren Kindern fröhlich das Morgenbrod, eine Schüssel dicker Suppe und Schmalznudeln zum Eintunken. „Da siehst Du,“ warnte sie den älteren Buben, „wohin der Müßiggang führt.“ Sie stand jedoch auf, um Stanis einige Nudeln zu schenken. Er konnte keinen Finger rühren; das gute Weib steckte sie ihm in den Schnappsack, welchen ihm die Jäger auf den Rücken gehängt hatten. „Gieb ihm nur Nudeln,“ bemerkte der Bursche spöttisch, „im Zuchthaus auf der Plassenburg kriegt er viele Jahre keine mehr zu beißen.“

„Du bist auch nicht der Beste,“ bemerkte die Bäuerin unwillig, „hast Du vielleicht einen Freibrief für die Zukunft, daß Du nie ins Elend geräthst? Man soll den Nebenmenschen nie spotten, wenn er sich nicht wehren kann.“

„Er hat uns lang genug getrutzt!“

„Warum habt Ihr es ihm nicht gelegt, Ihr seid halt für Nichts. Geht, schämt Euch, da schleppen vier solche Laggel einen Menschen gebunden daher, den sie im Schlaf überfielen; Ihr habt wenig Ursach zu einem Triumphgeschrei.“

Sie kehrte den Jägern verächtlich den Rücken.

Diese führten Stanis zu Stinele. Auer war ihr Vorgesetzter, er hatte über das Schicksal des Gefangenen das Weitere zu verfügen. Die Dirne, welche an der Thüre stand, sagte ihnen, daß er in den Wald gegangen sei und erst in einer Stunde zurückkehre.

„Stinele,“ rief der rohe Bursche, „Stinele! wir bringen Dir Deinen Liebhaber!“

Das Mädchen hatte den Lärm längst gehört, ohne sich darum zu kümmern, jetzt beugte sie sich unwillig zum Fenster heraus. Ihr Blick begegnete dem Blick Stanis’, entsetzt fuhr sie mit einem leisen Schrei zurück. In der Brust des Gefangenen schwoll Schmerz, Wuth und Scham zur Riesenkraft, er drehte die Fäuste übereinander, die Knochen knackten, Blut rann über die Finger, die Bande waren gesprengt. Er entriß einem Jäger mit einem Griff sein Gewehr, schlug den Burschen mit dem Kolben nieder, überwarf den nächsten, die zwei andern schossen in der Verwirrung ihre Büchsen ab, fehlten jedoch und liefen eiligst davon. Das war alles das Werk einer Minute. Stanis war frei, er flog die Höhe vor das Haus hinan und sang, eh’ er sich in das Gebüsch barg, droben noch einmal:

Wer die Raut’n mecht hab’n,
Steig aufi auf d’ Wand,
An boarischen Jaga
Fallt’s g’wiß nit in d’ Hand.

Als der Jägerbursche ächzend, mit blutrünstigem Schädel bei der Bäurin, welche Stanis die Nudeln geschenkt hatte, vorbei geführt wurde, erkundigte sich diese um die Geschichte. Man erzählte ihr die Befreiung Stanis’. „Gott sei Dank,“ rief sie aus, „es wär’ schad gewesen um den saubern[1] jungen Menschen, wenn er sich’s nur zur Warnung nimmt und das Wildern aufsteckt. Du aber,“ die Worte galten dem Jägerburschen, „sei ein anderes Mal barmherzig und lobe den Tag nicht vor dem Abend.“

Woche um Woche verrann, niemand hörte mehr von Stanis, doch blieb er deswegen nicht vergessen: der Jägerbursche trug seinen Denkzettel, wegen dessen er oft ausgelacht wurde, an der Stirne herum; vielleicht auch erinnerte sich Auer manchesmal seiner, obgleich er ihn nie nannte, ebenso wenig als Stinele, das wohl am öftersten an ihn dachte. Sie konnte ein Gefühl der Unruhe nicht bewältigen, wem sollte sie vertrauen? Der Mutter? Diese war durch die Keckheit des Burschen, der anfänglich, eh’ sie Näheres von ihm wußte, einen günstigen Eindruck auf sie gemacht, tief gekränkt und schmälte mehr, als der Tochter gefiel. Den Freundinnen? Die hätten sie wahrscheinlich in allen Spinnstuben herumgetragen. Den Sternen? Diese Erfindung hatte sie, obwohl sie nicht neu ist, für sich noch nicht gemacht. Was hätte sie schließlich auch sagen sollen? War sie doch über ihr Herz selbst im Unklaren, daß sie sich fest einredete, nur der Unwille rufe ihr das Bild des Wilderers vor die Seele. – Der Reif hatte längst schon die Zeitlosen versengt, nach einer Reihe klarer kühler Tage meldete ein Herbststurm das Nahen des Winters, die Nebel hingen von den Bergen so dicht in das Thal, daß man sie hätte schneiden mögen, und schwere Tropfen schlugen an die Nordseite des Hauses, mit einem Wort ein Wetter, in welches man keinen Hund hinausjagen soll. Die Dämmerung brach früher als gewöhnlich an, Stinele saß in ihrer Kammer, die ungestört hinten aus lag, denn sie sehnte sich nach Einsamkeit, da tickte es an die Glasscheiben, als suche ein Vögelchen Unterkunft. Sie machte rasch das Fenster auf, eine Hand ergriff den Querstab des Kreuzes, und eh’ sie noch einen Schrei ausstoßen konnte, stand Stanis vor ihr. Er war blaß und abgemagert. Nachdem er der Betroffenen einen Augenblick zur Erholung gegönnt, begann er: „Stinele, wenn Du alles weißt, wirst Du mir verzeihen.“

„Du gehst schleunig, sonst rufe ich den Vater!“

„Thu es und weihe mich dem Untergang, dann ist’s aus.“

Sie schwieg.

„Stinele!“ er faltete dabei wie bittend die Hände, „Stinele, laß mich wenigstens reden; gönnt man doch dem Verbrecher, der zum Galgen geführt wird, ein letztes Wort. Ich hab’ Alles aufgeboten, Dich zu vergessen, Alles! Es war jedoch unmöglich. Stets sah ich Dich, aus jedem Busch tratest Du mir entgegen, in jedem Wölkchen, das vom Thal aufstieg, wallte Dein Gewand, Du glittest wie im Tanz an den Felswänden hin, Gemse hab’ ich seitdem keine mehr geschossen, obwohl mich ein prächtiger Bock fast niederstieß. Ich kann ohne Dich nicht leben, – wie willst Du’s halten mit mir? sag nur ja oder nein. Von Dir hängt es ab, ob ich untergehen –“

„Gott im Himmel!“ unterbrach sie ihn heftig, „der Vater kommt –“

„Dann bin ich verloren!“

„Lauf durch jene Thüre und spring’ aus dem Fenster!“

„Stinele, jetzt weiß ich, daß Du mich lieb hast!“

„Flieh, flieh!“

Die Tritte, die man zuerst unten auf dem Flur vernommen, näherten sich.

„Stinele, und wär’s mein Tod, noch ein Kuß!“

Er drückte sie heftig an sich, sie leistete keinen Widerstand.

Eine Minute später schlugen die Büsche hinter dem Hause zusammen, er war dahin.

Der Vater öffnete die Thüre: „Was machst Du denn für einen Lärm?“ frug er. „Mir schien, es sei etwas Schweres auf den Boden gefallen. Du wirst bleich und roth, was ist denn mit Dir, fehlt Dir etwas? Seit einiger Zeit weiß man wahrlich nicht, was anfangen, nichts ist Dir recht, und Launen hast Du mehr als Haare auf dem Kopf.“

Das Mädchen nahm die Vorwürfe hin, ohne sich zu entschuldigen, hätte doch ein Wort ihre Aufregung verrathen können. Der Vater fuhr fort: „Drunten in der Stube ist schon eingeheizt, ich hab Dich holen wollen, daß Du mir und den Nachbarn die neue bairische Zeitung vorlesest.“

Sie gehorchte der Aufforderung.

Der Himmel klarte sich wieder, selbst im Hochgebirge schmolz die zusammenhängende Schneedecke und ließ nur in Runsen und Senken einzelne Fetzen zurück, die Buchenwälder hatten jedoch schon Roth angelegt, und zwischen den schwarzen Föhren stieg hier und da wie eine goldene Pyramide ein Lärchenbaum. Hoch oben durch den blauen Himmel flogen im langen Striche die Zugvögel dem wärmern Süden zu, hier und da drang ein verlorner Ton hinab und weckte tiefe Sehnsucht nach schönern Ländern; es war Allerheiligen. Längst hat die Gemse ihr schwarzes Winterkleid angezogen, es schützt sie nicht vor der Kugel des Jägers, der sie jetzt besonders eifrig verfolgt. Stanis saß auf einer Bergspitze im milden warmen Sonnenschein, die wundervolle Aussicht von der Spitze der Gletscher bis tief ins bairische Flachland kümmerte ihn wenig, sein Aug’ war in das Thal gerichtet, durch welches bläulicher Rauch floß, in das Thal auf das schimmernde Häuschen Auer’s. Wenn der verliebte Auerhahn balzt, sieht und hört er nicht; auch Stanis balzte, sonst hätte er gewiß das leise Knistern des trockenen Grases hinter seinem Rücken bemerkt. Der alte Auer schlich näher und näher, die Büchse in der Hand, das Auge unverrückt auf den Wilderer, machte er jetzt wieder vorsichtig einige Schritte und blieb, wie sich jener regte, ruhig stehen. Endlich, nur noch einen Steinwurf weit entfernt, rief er mit lauter Stimme: „Stanis!“ Dieser sprang, wie aus einem Traume aufgeschreckt, rasch auf und blieb, als er den Alten erblickte, unbeweglich stehen. Auer schritt langsam vorwärts, erst jetzt besann sich der Wilderer, riß die Büchse von der Schulter und wollte anlegen. „Laß gut sein,“ sagte der Alte ernst, „ich hab Dich schon beobachtet, wie Du

  1. WS: fehlendes s ergänzt
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 659. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_659.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)