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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Eine Boxerfahrt.

Wie noch vor fünfzig Jahren in schottischen Dorfschulen ein Schulbuch in Gebrauch gewesen, welches die interessante Mittheilung enthielt, daß die Leute in Deutschland in Felle gekleidete Barbaren seien, so giebt es noch heute deutsche Landsleute, die allen Ernstes sich einen Engländer nicht ohne gelben Nankinganzug, Fidibusse von Fünfpfundnoten und einen Bulldog als Spiritus familiaris denken können, vor Allem aber die edle Kunst des Boxens als ein populäres Vergnügen vom Lord bis auf den Straßenjungen herab erklären. Ob der Nanking aus der Mode, müssen die Schneider am besten wissen, aber daß Banknoten nicht mehr zum Anzünden von Pfeifen verwendet werden, ist eben so gewiß, wie die Seltenheit der Bulldoggen in London und die Unmöglichkeit, einen Lord in Hemdsärmeln zu entdecken, der wie ehedem einen Matrosen zu einem „Gang“ herausfordert.

Indessen ist die alte liebe Gewohnheit nicht völlig ausgestorben, alljährlich finden Preisfaustkämpfe statt, zu welchen die Helden wie edle Pferde lange vorher „trainirt“ werden, bis ein Platz in sicherer Entfernung von polizeilicher Störung ausfindig gemacht ist und die Höhe der Wetten das Risico von Leib und Leben „verlohnt“.

So war es am ersten September unseres erleuchteten Jahres. Die Sportzeitungen hatten die Erwartung und Ungeduld jenes Theils der Bevölkerung, dem die Times ein „wölfisches Gemüth“ zuschreibt, bis zum Siedepunkt erhitzt. Auf Mace, den Zigeuner und Preisboxer, Englands Champion, waren bald 600 Pfd. St., auf seinen Gegner Goß 400 Pfd. St. gewettet. Der Sieger sollte beide Summen in die Tasche stecken.

Es war Mitternacht in Whitechapel, einem düsteren östlichen Districte Londons, und zwar dem ärmsten. Die Bierhäuser waren aber noch gedrängt voll, und sehr gemischte Gesellschaft wogte ein und aus. Hier war das Stelldichein Aller, welche für zwei Sovereigns das Geheimniß erkaufen wollten, wo der Boxkampf vor sich gehen sollte. Wer mit Ellenbogen und Rippenstößen sich den Weg zum Ohre des grinsenden Bierwirths erzwingen und ihm zwei Goldstücke in die Faust drücken konnte, erhielt ein Eisenbahnbillet „gültig von der Paddington-Station nach W. B. und zurück.“ Wer nun keine verdächtige Polizeinase besaß, konnte mit Leichtigkeit unter so liebenswürdigen Sportsmännern auskundschaften, daß W. B. eine kleine Stadt in der entlegenen Grafschaft Wiltshire, Namens Wootton-Bassett sei, von ehrwürdigem Alter, fast so alt, wie der Kalkboden, auf dem sie erbaut worden. Um halb vier Uhr Morgens sollte der Bahnzug abgehen, und in dichten Gruppen wanderten die Billetinhaber von allen Bezirken der Millionenstadt nach der Station Paddington im fernen West-End.

Eine Fluth von Menschenköpfen drängte sich in dieser Frühe durch das Bahnhofgebäude, durch Fenster und Thüren; – die Beamten gaben jede Ordnung als hoffnungslos auf, und Ex-Champions verschiedenster Gattung bildeten eine Amateur-Polizei und hielten die Reiselustigen mit Knotenstöcken und Faustpüffen in Reih’ und Glied, bis die in Bereitschaft gehaltenen Waggons mit dieser lärmenden, fluchenden und jauchzenden Völkerwanderung gerüttelt und geschüttelt voll waren. Die Policemen glänzten durch kluge Abwesenheit, augenscheinlich hatten sie ihre besonderen Pläne, wie den Fang sich in flagranti nicht entgehen zu lassen.

Der Zug schien von ungeheurer Länge. Dichter Nebel verhüllte die Aussicht noch nach allen Seiten, und man entdeckte nur ein Irrlichtheer von glimmenden Cigarren in dem Düster des Perrons und der Coupés, bis mit einem schrillen Pfiff die ganze ungefüge Masse in Bewegung kam. Die Heroen des Tages, Mace und Goß, die zuletzt eingestiegen, wurden mit einem brausenden Hurrahruf empfangen, das noch weithin hallte, als schon das Rasseln der Räder und Ketten und das Geknatter der Schienen jede menschliche Rede unhörbar machte. Ein gellendes Geschrei antwortete vom Eisenbahnhof, wo späte Nachzügler ihr Geschick verwünschten und gern auf einen Höllenwagen gestiegen wären, wenn solcher für hundert Guineen zu haben gewesen, um die Davonfliegenden noch einzuholen.

Und doch war dies kein „gemeiner Pöbel“ – nein – gut zwei Fünftheile waren Leute aus der sogenannten „guten Gesellschaft“, durchstreut mit hochadligen Namen, einzelnen Parlamentsmännern, hin und wieder einem jugendlichen Kleriker, freilich ohne die sonst kenntliche weiße Halsbinde, Beamten, die den Sport lieben, und Leuten, die bei Tatterfall täglich hohe Wetten auf Pferdefleisch buchen und bezahlen können. Der große Rest besteht immer aus Gesindel, dessen gute Geschäfte in London ihm an solchen „Ehrentagen“ die Ausgabe von einigen Guineen gestatten. Die „wölfische Gemüthlichkeit“, wie die Times sagt, verbrüdert schnell in solchen Fällen.

Hinaus in die Morgenfrühe, in das offene Land! Vorwärts laufen die Fünfhundert nach einem entlegenen Platze, wo sie in Verborgenheit einem Schauspiel beiwohnen wollen, das möglichenfalls mit einem Brudermorde endet! Sie sorgen sich um solche Gedanken nicht; sie rühmen das Ding als nobel und heroisch; denn es sei etwas „Besonderes um die heutige Probe“, weil „beide Männer Erfahrene seien“ und in „excellenter Condition“ sich befänden. Namentlich Mace, der erklärte Champion von England, sei ein würdiger „Professor einer äußerst nützlichen Kunst“, nothwendig „für die nationale Existenz Britanniens“; Beide auch „Wetteiferer“ für ein anständiges „Preisgeld“, das mehr als ein „Ehrensold“ denn als „gemeiner Mammon“ angesehen werden müsse. Sie gäben ein Beispiel, „bis zu welcher Vollkommenheit ein Mann trainirt werden könne, wenn nur sein Geist mit Ernst sich auf die Sache werfe“ etc. Hin und her gingen die Wetten, die sorgfältig gebucht wurden. Es macht nicht viel aus, sich als zweideutiger Bankerotteur vor Gericht weiß zu waschen, aber es ist Ehrensache, solche Wetten auf Menschenblut zu bezahlen.

Weiter! Weiter! Sonnenschein überall! Man ist achtzig englische Meilen von London entfernt und hat die Fahrt in kaum zwei Stunden zurückgelegt. Zauberischer Sommermorgen! Grün funkelt der Sammet der weiten Hirtenlandschaft fern und nah. Ungesehen – hier ungefühlt! „Welch schönes Wetter! Wir werden einen „Modellkampf“ sehen.“

Wootton-Bassett ist erreicht. „Endlich!“ – Sofort schlüpfen aus dem vordersten Waggon ein Dutzend Gestalten, Ex-Champions, die ihren Ruhm überlebt, beladen mit den Utensilien der Kampfequipage, d. h. den Feldstühlen für die Boxer, wenn erschöpft oder blutend, riesigen Bündeln von Wasch-Schwämmen, Essig- und Wasserflaschen, Flacons mit Portwein gefüllt. Bandagen u. s. w. In allen diesen Dingen verräth ein gewisser patentirter Luxus das vorgeschrittene Zeitalter. Nur das mitgebrachte Strohbündel sieht häßlich-ominös aus. Ich blickte mich unwillkürlich nach einem Todtengräber um und nach einem Sarge! – Weichliche Sentimentalität! Andere „von der Kunst“ schließen sich an, welche die Pfosten und Seile tragen, mit denen der Kampfplatz – oder vielmehr der „Ring“ – eingezäunt werden soll. Dann folgt Mace, der Champion von England, von Kopf bis zu Fuß in einen phantastisch-weißen Flanellanzug gekleidet, an den Säumen mit schwarzen Streifen verziert, eine weiße Mütze auf dem verwegenen Zigeunerkopfe. – Verehrung spricht aus allen Gesichtern – denn Viele warten schon dort, die von Bristol, Manchester, Liverpool, von allen Ecken und Enden Englands herbeigekommen, zu Roß und zu Wagen oder mit Dampf, und theilweise im Freien über Nacht bivouakirt haben. – Goß, sein Rival, ist dunkelfarbig von Antlitz und Kleidung, sieht weniger kunstreiterhaft aus und könnte für einen harmlosen Hufschmied gelten.

In langer, schweigender Procession – die Spannung macht alle Gespräche verstummen – schreitet die schwellende Menge über den weißen, weichen Mergel der Felder, mitunter durch Hohlwege, von dunklem tauigem Laube überwölbt, durch welches das Sonnenlicht schimmert auf alle die wandernden, unheimlichen, oft scandalösen Gesichter, fast quer über auf eine Wiese zu, auf der ein Schäfer friedlich seine Heerde weidet, denn der seltsame Besuch kommt dem Landstädtchen in Wiltshire ganz unerwartet. Er will sich anfangs dem Einbruche auf sein Gebiet widersetzen, aber ein einziger voller Händedruck macht alle Scrupel schwinden.

Nun wird der „Ring“ errichtet – es ist eigentlich mehr ein verkümmertes Viereck. – Ein äußerer Ring für bevorzugte Honoratioren folgt in gleicher Schnelle, wofür die Schauplätze zum Besten der „Faustkämpfer-Wohlthätigkeits-Gesellschaft“ sich mit rapider Bereitwilligkeit verkaufen. Gold regnet in die schmutzigsten Hände – denn es sind zwölf breitbrustige Burschen nöthig, um den ersten Rang gegen den Andrang der Uebrigen mit frischgeschälten Weißdornstäben und Guttaperchapeitschen zu vertheidigen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_650.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)