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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Martha sollte ein Leichenbegängniß erhalten, wie es in dem Dorfe und in der Umgegend nie zuvor gesehen worden sei. Er selbst fuhr am Morgen des andern Tages nach der Stadt, um den theuersten Stoff, den er finden könnte, zum Grabkleide seiner Martha auszusuchen. Nach langer Wahl entschied er sich für schweren weißen Atlas, schon aus dem Grunde, weil er glänzte „wie Silber“. Auch den zweiten Wunsch der Tochter, der mich noch einmal zu ihr berief, erfüllte er gewissenhaft. So sehr ich mich aber auch beeilte, konnte ich doch erst erscheinen, als der Sarg bereits auf der Bahre im Hofe stand und die Leidtragenden in dem Hause versammelt waren. Der Zug ordnete sich bald. Voran wurde das Bild des Gekreuzigten getragen. Dann folgten die Schulknaben mit ihrem Lehrer und dem Geistlichen im Priestergewande. Hinter diesen kam die Bahre, mit Blumen geschmückt, von zwölf jungen Burschen getragen und von zwölf Jungfrauen umgeben, deren jede eine weiße Rose in der rechten Hand trug. Hinter dem Sarge ging, tiefgebeugt, fast gebrochen, Michel Gerber mit seinen Verwandten, die sämmtlich geladen und erschienen waren. Ihnen schlossen sich alle männliche Bewohner des Dorfes an. So bewegte sich der Zug langsam, unter dem Geläute der Glocken und dem Gesange der Schukinder, durch das Dorf nach dem Friedhofe, wo nicht nur alle Weiber und Mädchen des Dorfes, sondern auch viele Fremde von nah und fern bereits versammelt waren, denn alle wollten die Tochter des reichen Michel Gerber sehen, weil das Gerücht die Kunde verbreitet hatte, sie liege im Sarge „so schön wie eine Prinzessin“. Vor dem Geländer, welches das Grab der Mutter Martha’s umschloß, hielt der Zug und bildete einen Kreis. In diesem wurde die Bahre niedergelassen und der Sitte gemäß der Deckel vom Sarge genommen, damit Alle die Todte noch einmal sehen könnten. Als der Sarg geöffnet war, lief durch das laute Weinen umher ein Ah! der Bewunderung. Da lag Martha in dem weißen glänzenden Gewande, einen Kranz von weißen Rosen auf dem jungfräulichen Haupte, eine weiße Rose in der Hand, mit freundlichem Lächeln um den für immer geschlossenen Mund, und sie sah in diesem Schmucke, der ganz für sie geeignet war, so schön aus, daß die Versammelten kaum glauben konnten, es sei dieselbe Martha, die sie alle gekannt hatten. Ich selbst staunte bei dem unerwarteten Anblicke und bedachte bei mir, da Martha im Tode so schön sei, wie bezaubernd sie hätte erscheinen müssen, wenn das Geschick ihr gestattet, im blühenden Leben, in der Freude des Glücks, in einer ihr ziemenden Kleidung sich zu zeigen.

Der Geistliche hielt eine von warmem Gefühl eingegebene einfache Rede und sprach den Segen der Kirche über die Entschlafene. Darauf schloß man den Sarg von neuem, senkte ihn in den Schooß der Erde, und bald bildete sich darüber, neben dem Grabhügel der Mutter, jener der Tochter. Gerber stand die ganze Zeit über unbeweglich da und hielt sich an dem Eisengeländer an. Fast mit Gewalt mußten wir ihn endlich hinwegführen. Bei dem großen und reichlichen „Leichenessen“, das dem Herkommen gemäß in dem Trauerhause den Leidtragenden gegeben wurde, rührte er gegen seine Gewohnheit die Speisen kaum an. Nach Beendigung des Mahles, als die Uebrigen sich zur Heimkehr anschickten, nahm er mich bei Seite und sagte:

„Mit Ihnen habe ich noch zu reden, aber morgen erst; heute kann ich es noch nicht. Bleiben Sie bei mir.“

Ich blieb. Am andern Morgen führte mich Michel Gerber in sein „geheimes Cabinet“, ein einfaches, freundliches Stübchen.

„Erinnern Sie sich,“ begann er da, „daß der Schneider auf dem Tanzplatze mir einmal zurief: „Hochmuth kommt vor dem Falle?“ Jetzt, da mich das Unglück getroffen hat, sagen das die Andern nach. Ich hätte, heißt es, zu hoch hinaus gewollt mit der Martha, darum hätte Gott sie von mir genommen und mich so gestraft. Hätte ich das Mädchen erziehen lassen, wie die andern Mädchen im Dorfe erzogen werden, würde sie heute noch leben. Ich trüge also die Schuld an ihrem Tode. Sie haben Martha gut gekannt, und sie hielt viel auf Sie. Was sagen Sie? Habe ich Unrecht daran gethan, daß ich ihr Bildung geben ließ?“

Was sollte ich dem betrübten Vater sagen? Konnte, durfte ich ihm Alles geradezu vorhalten, was er an der Tochter gesündiget? So bald nach ihrem Verluste?

„Nein, Herr Gerber,“ antwortete ich nach einigem Nachdenken, „Sie haben sicherlich nicht nur nicht Unrecht, sondern im Gegentheil wohl daran gethan, daß Sie Martha eine gute Erziehung und höhere Bildung geben ließen; denn jede Art von Bildung ist eine Veredlung. Nur in der Verwendung der Bildung kann fehlgegriffen werden und wird gefehlt. Sie glauben, und Viele mit Ihnen, Bildung sei nichts weiter als Wissen, ein Ansammeln von mehr oder weniger Kenntnissen, ein Aneignen von Fertigkeiten. Das ist ein Irrthum, wenn auch ein verzeihlicher. Kein Theil, keine Kraft des menschlichen Geistes kann für sich allein ausgebildet werden, ohne daß die andern sich auch davon berührt fühlen, wie man kein Rad in einer Uhr z. B. in Bewegung setzen kann, ohne daß es in die andern eingreift und sie mit zu treiben beginnt. Hat das Gedächtniß Schätze des Wissens angesammelt, so fängt der Mensch, unbewußt vielleicht und ohne daß er es will, an, sie untereinander zu vergleichen; dadurch wird das Urtheil geweckt, und nach demselben bilden sich Ansichten über Recht und Unrecht, Gut und Böse, Schön und Häßlich. Der gebildete Geist läutert, reiniget und veredelt das Gemüth. Nun wissen auch Sie, Herr Gerber, daß Gleich sich gern zu Gleich gesellt. Der gebildete Geist verkehrt am liebsten mit dem gleich oder noch mehr gebildeten, und der geläuterte Geschmack sucht das Schöne und Edle. Unwissenheit und Rohheit verletzen sie und stoßen sie ab. Darum kann ein Gebildeter nun und nimmermehr unter Ungebildeten sich wohlbefinden, und wenn er gezwungen ist, immer unter solchen zu leben, wird er sich elend und unglücklich fühlen und endlich zu Grunde gehn.“

„Wenn die Bildung,“ fiel Michel Gerber ein, „nicht für Alle gleich gut und nicht überall gut ist, so taugt sie überhaupt nichts.“

„Das wäre eben so, als wenn Sie sagten, wenn ein Arzneimittel nicht jedem Kranken und nicht zu jeder Zeit helfe, tauge es überhaupt nichts.“

„So sind Sie also auch der Meinung, ich hätte der Tochter die Bildung nicht geben sollen, die sie hatte?“

„Keineswegs. Sie hätten Martha mit ihrer Bildung nur nicht dahin bringen sollen, wohin sie nicht paßte.“

„Ich hätte sie also nicht einem Bauer zur Frau geben sollen?“

„Es ist eine allgemein bekannte Thatsache, daß jede gebildete Frau an der Seite eines ungebildeten Mannes unglücklich wird.“

„Dann hol’ der Teufel die Bildung!“ sagte Michel Gerber.

„Sie wollen die Sonne auslöschen, weil sie Ihnen einmal lästig ist, und vergessen ihre sonstigen unentbehrlichen wohlthätigen Wirkungen.“

„Das ist mir Alles zu hoch, sehen Sie. Martha hatte Sie gern, ich weiß es wohl, und ich glaube, sie hätte sich gar nicht gegrämt, wenn sie Ihre Frau hätte werden sollen. Ihnen hätte ich sie aber nicht gegeben, trotz aller Ihrer Bildung, weil Sie noch nichts sind und auch nichts haben. Die Hauptsache in der Welt ist und bleibt das Geld. Wer Geld hat und keine Bildung, wie ich z. B., ist ein ganzer Kerl und alle Welt hat Respect vor ihm; wer aber nur Bildung hat und kein Geld, ist doch nur ein halber Mensch. Also Geld und Bildung, wenn es sein kann. – Der Tod der Martha hat mich sehr erschüttert, sehr, aber ich überwind’s und dem Sohne lasse ich Bildung geben, wenn auch die Tochter vielleicht daran gestorben ist. Sie hatte viel von ihrer Schwachen Mutter. Der Junge wird mir an der Bildung nicht sterben, denn er hat meine Natur.“

Bald darauf verließ ich das Haus Michel Gerber’s, das mir öde und leer erschien, seit die nicht mehr darin waltete, die sein Schmuck gewesen war.


Ein deutscher Jude.
(Mit Portrait.)

Während die von Vielen längst todtgeglaubte deutsche Reichsverfassung vom 28. März 1849 mit einem Male in den Herzen des Volkes wieder auflebt und von einer zahlreichen, über ganz Deutschland verbreiteren Partei zu dem Panier erhoben worden ist, unter welchen sie den Kampf, der damals nicht ausgekämpft werden konnte, neuerdings aufzunehmen und früher oder später zu einem

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