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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

wären der Staat, alle übrigen Classen ihnen gegenüber kämen dabei gar nicht in Betracht, und dieser blos aus ihnen bestehende Staat könne ihnen helfen, wenn sie selbst dies nicht vermöchten – und was dergleichen Verkehrtheiten mehr waren. Vielmehr zeigte sich der Segen der gegenseitigen Annäherung und des vielfachen Verkehrs der verschiedenen Gesellschafts-Schichten mit einander, in welchem man sich gegenseitig kennen und achten gelernt hatte. Die Arbeiter wußten die Sympathie und das Entgegenkommen der gebildeten und besitzenden Classen viel zu sehr zu schätzen, als daß sie sich gegen dieselben durch so hohle Vorspiegelungen zu einem traurigen Classenkampf hätten aufstacheln lassen sollen, von welchem Niemandem die Frucht zufallen würde, als der Reaction. Soviel hatte man gelernt, daß man sich nicht muthwillig in Zwiespalt bringen dürfe mit der ganzen bürgerlichen Gesellschaft, wenn man überhaupt etwas erreichen wolle, und daß die Interessen der Arbeiter nicht im Gegensatz ständen zu denen der übrigen Classen, sondern mit ihnen zusammenfielen. Die volle bürgerliche und wirthschaftliche, die Erwerbsfreiheit, die Verwirklichung des verfassungsmäßigen Rechtsstaates mit der Gleichheit Aller vor dem Gesetz, in welchem das allgemeine gleiche Wahlrecht ohnehin eine Hauptforderung bildet, die möglichste Selbstregierung in Staat und Gemeinde: das ist’s, was die große liberale Partei in ganz Deutschland erstrebt, und was den Arbeitern gerade eben so Noth tut, wie allen Uebrigen, so daß ihre Sache von der gemeinen Sache zu trennen nicht blos ein Verrath wäre am ganzen Volke, sondern zugleich ein Verrath an sich selbst, der sich an Niemand schwerer rächen würde, als an den Arbeitern.

Daß dies Alles so entschieden und besonnen aufgefaßt, so klar ausgesprochen ist in den eigenen Reihen der wackern Männer, das ist Etwas, um was uns unsere Nachbarvölker zu beneiden haben, so hoch ihnen auch sonst der Sinn steht, so weit sie uns in politischer Gestaltung und äußerer Machtentfaltung voraus sein mögen. Noch lastet die Furcht vor den socialistischen Arbeiterbewegungen wie ein Alp auf Frankreich, und hält es unter dem eisernen Scepter der kaiserlichen Militärallgewalt. Noch muß, soll Italien dauernd seine Stelle unter den europäischen Staaten ausfüllen, in dem größeren Theile des Landes ein eigentlicher Arbeiterstand mit bildungsfähigen Elementen überhaupt erst geschaffen werden; eine Aufgabe, welche der pfäffischen Verdummung gegenüber, die das Volk in Mittel- und Unteritalien Jahrhunderte lang niedergehalten hat, vielleicht schwerer auszuführen sein dürfte, als die Vertreibung der fremden Dynastien. Ja selbst in England, der Veste der bürgerlichen Freiheit in Europa, wo der praktische Sinn der Arbeiter dieselben am meisten vor socialistischen Abwegen behütet und am ersten den Wegen der genossenschaftlichen Selbsthülfe zugeführt hat, haben dieselben niemals eine so bewußte Stellung zu den großen Zeitfragen, zu der humanen und politischen Entwickelung der Nation eingenommen, als dies gegenwärtig bei uns der Fall ist. Darum, wie tiefe Nacht auch die Geschicke unseres Vaterlandes bedeckt, wie kläglich seine öffentlichen Zustände sein mögen: wo alle Schichten des Volks einmüthig von solchem Geiste beseelt sind, da kann der endliche Sieg nicht fehlen! Und noch mehr: da, und da allein, wo der politische Fortschritt mit gesunden wirthschaftlichen Grundlagen, mit humaner Reife Hand in Hand geht, ist die Garantie gegeben, daß einem siegreichen Durchkämpfen dauernde gedeihliche Zustände folgen, nicht jenes krampfhafte Hin- und Herschwanken zwischen großen Erhebungen und furchtbaren Rückschlägen, zwischen wilder Anarchie und starrem Despotismus, wie wir sie bei Völkern beobachten, die trotz mehr als einer siegreichen Revolution nicht zur Feststellung der Grundlagen wahrer bürgerlicher Freiheit bei sich gelangt sind.

Eben dieser tiefgreifenden Bedeutung halber scheiden sich an unserer Arbeiterbewegung die politischen Parteien so scharf, wie je in einer staatlichen Frage. Hier die Socialisten, mit den Feudalen, den Ultramontanen und allen sonstigen Heerschaaren der Reaction in schönster Einigkeit, und ihre Organe dazu, von der Berliner Kreuzzeitung bis zur Augsburger Allgemeinen, vom Nordstern bis zum Magdeburger Correspondenten und der Masse kleineren Nachtgevögels. Auf der andern Seite die ganze liberale Partei in allen ihren Schattirungen, mit sämmtlichen ehrenhaften Organen der Tagespresse ohne eine einzige Ausnahme. Und es ist wahrhaftig nicht zufällig, daß sich die Männer des socialen Staates und die des feudalen und Stände-Staates zusammengefunden haben, daß diese sogenannten Extreme, welche man als die entschiedensten Gegensätze zu betrachten gewöhnt ist, gerade bei diesem Punkte zusammengehen. Zur vollen Verwirklichung ihrer Pläne bedürfen Beide einer und derselben Voraussetzung, welcher die jetzige Arbeiterbewegung schnurstracks zuwiderläuft: unbewußte, nur für rohe, sinnliche Antriebe empfängliche Massen, die den Führern blindlings folgen. Nur mit solchem Material läßt sich an eine Ausführung ihrer politischen und socialen Ideale gehen, die mehr mit einander gemein haben, als es auf den ersten Blick scheint. Der fröhnende Leibeigene des Junkers und der Arbeiter unter Staatsgarantie – beiden ist durch die Enthebung von der Selbstverantwortlichkeit für die eigene Existenz jeder sittliche und wirthschaftliche Halt, jede Möglichkeit, jemals zu einer würdigen, gesellschaftlichen Stellung zu gelangen, unter den Füßen weggezogen. Mit Leuten, die denken, die sich selbst vernünftige Ziele setzen, sich über ihre wahren Interessen aufklären, sich durch eigene Kraft zu Bildung und bescheidenem Wohlstand emporarbeiten, macht man solche Experimente nicht, über die hat man keine Gewalt, und deßhalb taugen sie nicht für beide Lager. Daher der gleiche Geifer der beiderseitigen Clique gegen alle solche Bestrebungen der Arbeiter, weil die Leute dadurch dahin gelangen, an den großen Zeitfragen selbstständig mit Kopf und Herz Theil zu nehmen und sie nicht als bloße Magenfrage dem Bereich der brutalen Gewalt zu überliefern, welche der Frivolität und dem Ehrgeize derartige Dinge regelmäßig aus den Händen zu entwinden pflegt – ein Schmauß, auf den sich gewisse Leute bereits im Voraus – Gott sei Dank vergebens! – freuten.

Daher Ehre den deutschen Arbeitern! Sie haben sich um das Vaterland verdient gemacht – und den besten Dienst haben sie dabei sich selber geleistet.




Die Geburtsstätte eines Dichters.


Im Herzen Altenglands, in der Grafschaft Warwick, liegt am Avonflusse das Städtchen Stratford. In früherer Zeit ein nicht unbedeutender Verkehrsplatz, zählt es heute mit seinen drei- bis viertausend Seelen in dem Lande der Großstädte kaum für mehr als ein bescheidener Flecken. Aber dieser unscheinbare Ort ist ein Wallfahrtsziel für Hunderttausende von Anbetern, die dem Genius des gewaltigsten unter den unsterblichen Dichtern an seiner Wiege und an seinem Grabe das Opfer einer stillen Verehrung bringen. William Shakespeare wurde hier am 23. April 1564 geboren, und hier schloß er die Augen an seinem zweiundfunfzigsten Geburtstag im Jahre 1616.

„Die Stätte, die ein guter Mensch betrat,
Ist eingeweiht! nach hundert Jahren klingt
Sein Wort und seine That dem Enkel wieder.“

Wahrlich, nicht edler als mit diesen Worten unsres alten Goethe könnte das fromme Gefühl ausgesprochen werden, mit dem wir die Heimath eines großen Todten durchwandern. Und wie muß uns ein solcher Ort um so viel heiliger sein, je mehr ihn jener Mensch selbst geliebt hat, und je weniger uns sonst von dessen äußerer Umgebung bekannt und übrig geblieben ist! Die Worte scheinen wie gemacht auf den reizenden Fleck am Avon. Ohne Shakespeare würde Stratford in der Fremde kaum genannt werden. Aber mit diesem Namen verschlungen, hat es für Jeden, der seinen großen Bürger kennt und verehrt, das ganze Interesse und den ganzen Zauber einer kostbaren Reliquie. Hier durchspielte der Knabe, in der ungebändigten Muthwilligkeit des aufwachsenden Genius, unter munteren Genossen den goldenen Morgen seiner Tage. Aus den Eindrücken dieser Umgebung trank der feurige Jüngling die erste liebende Begeisterung. Dahin und immer wieder dahin zog es den Mann, wenn er, in der vollen Gluth des Strebens und Schaffens, vor dem Mittagsstrahl der eigenen Sonne einen Augenblick schattiger Einsamkeit suchte. Und da endlich genoß er den allzukurzen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 506. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_506.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)