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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Die unsichtbare Geistermusik.[1]
Ein Graudenzer Erlebniß.
Von Ludwig Walesrode.

Am 20. November des Jahres 1845 Vormittags fuhr ich zur Antretung meiner Haft in der Equipage des mir unvergeßlich im dankbaren Gedächtniß lebenden Kaufmanns W., begleitet von diesem und dem geistvollen Justizcommissarius H., nach der eine starke Viertelmeile von der Stadt auf hohem, schroffem Weichselufer liegenden Festung Graudenz. Ich leugne es nicht, es war ein eigenthümliches Gefühl, als der Wagen von dem eine imposant weite Aussicht auf den Weichselstrom und dessen Niederungen bietenden sanft ansteigenden Wege plötzlich über eine Zugbrücke in die Barriere des ersten Festungsaußenwerks einbog und zwischen den scharfen Mauerwinkeln und steilen Walldossirungen der Reduits, Lunetten und Ravelins hindurch endlich in das tiefe, wie ein Felstunnel dunkle Thorgewölbe der inneren Festung hineinrasselte. – Indeß stellte sich doch der Platz, mit dessen Topographie mich meine beiden Begleiter vertraut machen wollten, bevor ich dessen unbeweglicher Insasse wurde, dem ersten von der Neuheit überraschten Blicke nicht so ganz unfreundlich dar. – Die ringsum unter der rasenbewachsenen Wallerde in fortificatorischen Linien sich brechenden Casemattenfaçaden mit ihren zahllosen, schießschartenartigen Fenstern machten den Totaleindruck eines riesigen und antiquirten Palastes von gar barocker Architektur. – Von dem Oberthore, durch das wir eingefahren waren, führte als längster Durchmesser des Platzes eine etwa 600 Schritt lange Pappelallee, an welcher das an den beiden Schildwachen kenntliche Commandanturgebäude und einige gemüthliche bürgerliche Häuschen lagen, nach dem entgegengesetzten Niederthor. Ein drittes, das Wasserthor, befand sich an der sogenannten „Festungskehle“, die auf dem steilen mehrere hundert Fuß hohen Weichselufer gleich einer Mauerkrone saß. Man hatte durch dasselbe, wie durch einen rundbogigen Bilderrahmen, eine prächtige Aussicht auf die sich weit hinstreckenden Weichselkampen mit ihren schimmernden Dörfern und Gehöften. Auf der Place d’armes, einem geschlossenen Polygon gegenüber der Festungskehle, stand unter zahllosen Pyramiden von Geschützkugeln jeglichen Kalibers ein im steifen soldatischen Trophäenstyle ausgeführtes eisernes Monument für den braven Vertheidiger der Festung, den Feldmarschall L’Homme de Courbière, „König von Graudenz“, wie er sich dem französischen Belagerungscorps gegenüber nannte und unterzeichnete. Jene Franzosen des Jahres 1807 waren aber eigentlich großherzoglich hessische Truppen vom Rheinbunds-Contingent.

Soweit unsere Topographische Rundschau, die binnen zehn Minuten bequem erledigt war.

Nachdem ich so gehörig über die Aeußerlichkeiten meines künftigen Aufenthaltsortes orientirt war und meine beiden Freunde mit dem Versprechen, mich bald und recht oft oben zu besuchen, sich verabschiedet hatten – ein Versprechen, das sie ehrlich gehalten –, verfügte ich mich zum Platzmajor Hauptmann N., um mich zum Antritt meines Arrestes zu melden. Dieser theilte mir mit, daß ich schon seit drei Tagen erwartet worden und daß Alles für mich in Bereitschaft sei; zunächst aber müsse er mich auf die Commandantur begleiten, um mich der „Excellenz“, dem Generallieutenant v. Dedenroth vorzustellen. – Es erweckte in mir ein günstiges Vorurtheil, daß ich auf dem Arbeitstische des Commandanten Humboldt’s „Kosmos“ liegen sah, und der bald eintretende General selbst hatte Nichts in seiner Erscheinung, um diese vorgefaßte Meinung zu zerstören. Sein Gesicht, wie die ganze Haltung, hatte etwas Humanes. Er begrüßte mich mit allen Formen wohlthuender Höflichkeit, und selbst die unter den obwaltenden Verhältnissen allerdings eigenthümliche Aeußerung: „Es freut mich Sie hier zu sehen!“ war durchaus gut gemeint. – Es wurde mir gleich klar, daß die außergewöhnliche Casematten-Verfügung, von der man mir in der Stadt Graudenz erzählt hatte, nur in irrigen Voraussetzungen, welche die Berichte des Generalcommando über mich bei dem Commandanten erweckten, oder in einem directen Befehle von Königsberg her ihren Grund haben könnte; eine Ansicht, in der mich die Aeußerung des Commandanten bestärkte, er habe dafür Sorge getragen, daß mir eine recht gesunde Casematte auf der Sonnenseite der Festung eingeräumt worden; offenbar sollte ich in dieser Maßregel keine außergewöhnliche verletzende Strenge erblicken.

Der Platzmajor wurde beordert, mich nach dem mir bestimmten Gefängnisse zu führen. Auf dem Wege dahin engagirte derselbe zu meiner Bedienung einen alten Invaliden, den er sofort anwies, einige Kloben vom „Garnisonholz“ zur vorläufigen Heizung meiner Casematte herbeizuholen; – da ich nämlich auf die Alimentation der Staatsgefangenen, 5 Rthlr. per Monat, Verzicht geleistet hatte, so war ich auch verpflichtet, für Feuerung selbst zu sorgen. – Mein Gefängniß befand sich über dem Wachtlocale am Niederthor. – Obwohl es heller Mittag war, mußte der wachthabende Unterofficier Licht anzünden, mit uns hinaufzuleuchten. – Eine mächtige mit eisernen Ueberwürfen und Vorlegeschlössern verwahrte Eichenthüre, im Hintergrunde der Wachtstube, führte über eine stockdunkle Treppe in eine Art von Vorzimmer, dessen Wände

  1. Als Probe aus dem nächstens bei E. Keil erscheinenden Volkskalender von B. Auerbach für das Jahr 1864.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 497. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_497.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)