Seite:Die Gartenlaube (1863) 472.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Löwenstein-Wertheim vom Kaiser Karl VI. die reichsfürstliche Würde ertheilt.

Getreu ihrer vom Grafen Michael III. von Wertheim erhaltenen Bestimmung war die Burg im dreißigjährigen Kriege ein Hauptbollwerk des Protestantismus in Franken, und ihre Besitzer, die Grafen von Löwenstein, standen als die treuesten und wichtigsten Anhänger auf der Seite des siegreichen Schwedenkönigs. Nach der für die Sache der Geistesfreiheit so unglücklichen Schlacht bei Nördlingen stürzten sich die Kaiserlichen rachelechzend auf das fast ganz protestantische Franken. Piccolomini hatte den Auftrag, die Festungen Würzburg und Wertheim zu nehmen, und beorderte zur Eroberung der letzten den Feldmarschall-Lieutenant Suys, der die Burg auf ihrer schwächsten Seite, der südlichen, mit solchem Erfolge beschoß, daß die tapfere Besatzung, wozu auch eine Abtheilung schwedischer Hülfstruppen unter Hauptmann Rathgeber, einem gebornen Wertheimer, capituliren mußte. Sie erhielt freien Abzug und die wackern Bürger Belassung bei der augsburgischen Confession. Aber diese Concession mußte mit schweren Opfern erkauft werden. Zu fast unerschwinglichen Naturallieferungen kam eine Brandschatzung von 25,000 Reichsthalern für Abwendung der Plünderung, und da das Geld nicht aufzutreiben war, so gab jedes Haus, was es an Werthgegenständen besaß, und die Stadt wurde arm. Der kaiserliche Commandant der Burg, Borz, ließ die Bresche an der Südseite bestehen, oberhalb derselben aber eine Quermauer nebst Wall und Graben aufführen, wodurch die Befestigung zweckmäßiger und stärker als früher wurde. An dieser Mauer sehen wir heute noch die Jahreszahl 1634.

Nach dem Untergange des deutschen Reiches 1806 kam die Stadt Wertheitm mit ihrer Burg und ein großer Theil der nach ihr benannten Grafschaft an das Großherzogthum Baden; andere kleinere Theile gelangten an Baiern und Hessen.

In Wertheim, dicht unter der Burg, wohnt der rühmlich bekannte Lyriker und Altertumsforscher Dr. Alexander Kaufmann als fürstlicher Löwenstein’scher Archivrath mit seiner liebenswürdigen Gattin, der Dichterin Amara George. Jeder gebildete Fremde wird sich wohl in ihrem Haude fühlen.

Auch der fleißige Sagensammler Unterfrankens, Andreas Fries, lebt an der Gewerbeschule in Wertheim.



Geistesepidemien
Ein Vortrag, gehalten in der naturforschenden Gesellschaft zu Görlitz von Hermann Reimer.
Nr. 3.
Die weißen Cocarden der Bourbonen und die Adler der Napoleonisten – Die Tarantel-Epidemie – Tischrückerei – Medicinische Geistesepidemien – Humoristische Seite der Epidemien

Mehr als zwanzig Jahre waren verflossen nach dem Sturze des Königthums, kein Mensch gedachte mehr der Bourbonen, die durch ihr unseliges Regiment Frankreich in den Abgrund der Revolution gestürzt hatten, als die alliirten Fürsten an der Spitze ihrer Truppen in Paris einzogen. Da mit einem Male, es waren einige Legitimisten, von denen der Streich ersonnen war, erscholl an einzelnen Straßenecken der Ruf: „Es lebe der König!“ Dabei wurden weiße Cocarden unter das Volk ausgetheilt und mit weißen Tüchern geschwenkt. Bald vermehrte sich derselbe Ruf, bald sah man mehr und mehr die Farbe der Bourbonen, die weißen Cocarden auftauchen, und die Bewegung, so kläglich, so plump sie angelegt war, griff epidemisch um sich. Anfangs wehrten die Fürsten selbst ab, der Ruf und die ganze Demonstration erschien ihnen verfrüht und unmöglich, dann aber überzeugten sie sich, wie schnell die Massen ergriffen wurden, sie ließen gewähren, und der Thron der Bourbonen, unter den furchtbarsten Stürmen und nach unerhörten Schicksalen in Trümmer geschlagen, wurde durch einige Scheffel voll weißer Cocarden von Neuem wieder aufgerichtet.

In der napoleonischen Zeit waren es die Adler, denen man folgte, aber weit mehr noch hat der überwältigende Eindruck des großen Mannes die Menge mit fortgerissen. Ein eigentümlicher Mythus heftete sich an seine Schritte, wo er nur in seiner äußern Erscheinung sich zeigte. Seine Stellung, die Haltung der Arme, jedes seiner Kleidungsstücke wurden historische Reliquien, an denen die Einbildungskraft der großen Menge sich belebte. An diese sinnlich wahrnehmbare Erscheinung des Kaisers mußte derjenige anknüpfen, der napoleonischen Ideen in Frankreich wieder Eingang verschaffen wollte. Zweimal versuchte der Prinz Louis Napoleon, zuerst in Straßburg, später in Boulogne, in dieser Weise die Menge fortzureißen. In der äußerlichen Gestalt seines Onkels trat er unter sie. Ihm fehlten weder der Hut, noch der grüne Frack, weder der hellgraue Ueberrock, noch die classischen Stiefeln, und so mit über die Brust gekreuzten Armen hielt er in echt napoleonischem Styl seine Anrede. Bei der Landung in Boulogne hatte er außerdem ein noch feineres Spiel ersonnen. Man fand bei seiner Verhaftung auf dem Schiffe einen Adler, der gewöhnt war von seinem Hute zu fressen und der, losgelassen, in die Höhe stieg, um sich dann auf den Hut des Prinzen niederzulassen. Man hat alle diese Dinge höchst lächerlich gefunden, aber der dritte Napoleon hat gezeigt, daß vom Lächerlichen zum Erhabenen ebenfalls nur ein Schritt ist, und wenn er damals auch die Zeit nicht richtig gewählt und manche Umstände unterschätzt hatte, die Art und Weise seines Auftretens verräth den Menschenkenner, der über die Entstehung geistiger Strömungen sich ein Urtheil gebildet hatte und auf die Schwächepunkte unserer natürlichen Anlage folgerichtig zu speculiren verstand.

Die Geschichte der religiösen wie der politischen Bewegungen hat ihre Mysterien. In wahrhaft erhebender Begeisterung sehen wir Tausende, ja Millionen freudig ihr Leben opfern, heute für die Idee der Gottesbegnadigung, morgen für die der politischen Freiheit, und dann wieder sehen wir einen Zustand der Ruhe und Erschlaffung eintreten, in welchem die abgespannte Generation sich in dem Gedanken zu gefallen scheint, daß das Jagen nach idealen Gütern des Schweißes und Blutes so vieler Menschen nicht werth gewesen sei.

In solchen Zeiten tritt an die Stelle großer Affecte und Leidenschaften jene kleinliche Spielerei mit dem Geheimnißvollen, mit Giften und Arcanen, mit Elektricität und Magnetismus, und das Gefühl des unergründlichen Waltens der Naturkräfte, des unbestimmten Schauers scheint jene Lücke auszufüllen, welche der Mangel einer idealen Stimmung in der Strömung unseres geistigen Lebens erzeugte. Von den Zeiten des finstersten Aberglaubens, ich erinnere nur an die Hexenprocesse, bis auf die Helden des thierischen Magnetismus, bis auf Mesmer und Cagliostro, sind die Geister unzählige Male, von wissenschaftlichen Irrtümern befangen, epidemisch ergriffen worden. Eine große, in ihrer Art ganz eigentümliche Epidemie, die fast drei Jahrhunderte lang Italien verheerte, halte ich einer besonderen Erwähnung wert. Sie kennen die Redensart „Aufspringen wie von der Tarantel gestochen“; sie verdankt jener Epidemie ihre Entstehung. Nun ist die Tarantel eine unschuldige Erdspinne die in Apulien einheimisch ist, und der bis zum Anfange des 15. Jahrhunderts Niemand etwas Böses nachzusagen wußte. Damals aber, vielleicht auch schon etwas früher – Italien war durch mörderische Seuchen furchtbar verheert worden – damals verbreitete sich die Sage, daß der Stich der Tarantel heftige, ja höchst bedenkliche Erscheinungen im menschlichen Organismus hervorzurufen pflege.

Man nahm sich nicht die Mühe, den Feind selbst genauer in das Auge zu fassen, sondern verwechselte die hartgeschmähte Spinne bald mit einer giftigen Eidechse, bald mit anderen schädlichen Thieren. Man hielt sich nur an die muthmaßliche Wirkung, welche, phantastisch ausgeschmückt, die Köpfe erhitzte. Die Gebissenen fühlten sich beklommen, verloren den Appetit und verfielen in Trübsinn. Aber bei den ersten Tönen angenehmer Melodien sah man, die eben noch wie betäubt und ihres Verstandes kaum mächtig schienen, auf- springen aus ihrem dumpfen Hinbrüten und ihre abgespannten Körper wie von neuem Leben durchzuckt werden. Laut aufjauchzend fingen sie an in schnellen Tänzen sich zu drehen, bis sie erschöpft zu Boden sanken, oder sie verfielen in eine Art melancholischen Rausches und erfüllten mit lauten Klagen die Lüfte. Die Cither und die Flöte galten bald für Universalmittel, durch welche das Gift der Spinne im Körper zertheilt und so allmählich ausgeschieden werden könnte, und wo diese Instrumente gespielt wurden, da sah man bald von einem Ende Italiens bis zum andern große Schaaren

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 472. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_472.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)