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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

und der nie zur Unterhandlung mit der Lüge zu bewegen war, verdient in der That von Allen, die sich an der Lauterkeit und Würde eines Charakters erfreuen, gesucht und gekannt zu werden.

Der berühmte Geschichtschreiber und Professor Jules Michelet stammt aus der französischen Heroenzeit, in der ein gewaltiges Geschlecht viel Schwierigeres ausgeführt hat, als die Halbgötter, von denen die griechische Sage, als die Helden, von denen Homer erzählt. Er ist am 21. August 1798 zu Paris geboren.

Sein Vater hatte eine Druckerei, in welcher der Knabe von seinem zwölften Jahre an als Setzer verwendet wurde, da die drückenden Verhältnisse seiner Familie die Bezahlung eines Arbeiters schwer, wo nicht unmöglich machten. Erst zwei Jahre später gelang es mit den äußersten Anstrengungen, den jungen Menschen in einem Collège unterzubringen. Als Michelet seine Studien beendet hatte, verschmähte er es, von seiner Feder zu leben, und wollte einen wirklichen Beruf, er widmete sich dem Lehrfach. Drei Jahre lang gab er Lectionen theils in Privathäusern, teils in Privatlehranstalten, bis er 1821 in Folge einer Mitbewerbung Professor am Collège St. Barbe wurde.

Neben seinen Berufsgeschäften betrieb er unausgesetzt und mit unermüdlichem Eifer die Wissenschaften: Geschichte, Philosophie und classische Literatur. In den Jahren 1825 und 1827 erschienen seine ersten geschichtlichen Werke, in welchen sich der unabhängige Geist, das Wissen und die Darstellungsfähigkeit des Verfassers kund gaben und die Aufmerksamkeit erregten. Man merkte bereits, daß er die Philosophie des großen deutschen Denkers Kant in sich aufgenommen. Von da ab steigert sich der Ruf des Geschichtschreibers und Lehrers immer mehr und mehr. Nach der Julirevolution wird Michelet zum Vorsteher der geschichtlichen Abtheilung des königlichen Archivs ernannt und in die Lage gebracht, wie die andern liberalen Schriftsteller zu jener Zeit, nach politischem Einfluß, nach den höchsten Aemtern zu langen. Allein Michelet verschmäht die Stellenjagd und die Intrigue. Bescheiden und stolz bleibt er bei seinen Büchern und Schülern.

Die Werke meist historischen Inhalts, die Michelet nun in verhältnißmäßig rascher Aufeinanderfolge an’s Licht treten läßt, zeichnen sich vor Allem durch Originalität der Anschauungen aus, die manchmal gesucht erscheinen, die aber aus der allzu lebhaften Phantasie des Verfassers, aus dem Tumult der Gedanken, die sich in seinem Kopfe drängen, entspringen. Ferner ist an dem Geschichtschreiber zu rühmen, daß er viel gesucht und geforscht und neue Quellen gefunden hat, aus denen er geschöpft, daß er manches Dunkel aufgehellt, Ereignisse, die falsch aufgefaßt und falsch beurtheilt wurden, auf ihren wahren Grund zurückgeführt und ihnen ihren wahren Charakter zugewiesen hat.

Als Lehrer zeigt Michelet noch ganz andere Eigenschaften, denn als Schriftsteller. Er hat unter seinen Schülern Sympathien gewonnen, die an Fanatismus grenzen und die keine Zeit zu überwinden vermag. Er unterrichtete nicht nur, er erhob, er begeisterte. Alles, was sich des Bessern vorfand in den jungen Herzen und Seelen, das belebte, das bewegte er. Alles, was hoch steht in der Welt, Alles, was unvergänglichen Werth hat, das brachte er der Jugend nahe, er lehrte seine jungen Zuhörer vor Allem denken, erkennen, Götzen stürzen und Götter erheben. Seine Vorträge waren ungeregelt, wie seine Bücher sind, die Wirkungen aber, die sie hervorbrachten, waren außerordentlich. Sie boten keine systematische Belehrung, allein sie regten zum Bessern an, sie bildeten Geist und Gemüth und traten den schädlichen Einflüssen des Pariser Lebens, denen die Jugend ausgesetzt ist, sie traten den Einflüssen eines nach der Herrschaft strebenden gemeinen Materialismus, dem Aberglauben und dem Vorurtheil siegreich entgegen.

Die Maßregeln, welche von zwei Regierungen gegen den Professor ergriffen wurden, sind leichter zu erklären, als zu entschuldigen. Im Jahre 1834 ließ sich Herr Guizot, der die Schule gegen den politischen Tummelplatz vertauschte, auf dem Lehrstuhl der Facultät der schönen Wissenschaften ersetzen. Ein Jahr darauf bekundete unser Professor durch die Herausgabe der „Memoiren Luther’s, geschrieben von ihm selbst“ (Mémoires de Luther écrits par lui-même) seine Hinneigung zum Protestantismus. Dieses Werk ist aus Stellen, die sich in Briefen, Reden und Schriften des deutschen Reformators finden, zusammengesetzt.

Im Jahre 1838 gelangt Michelet auf den Lehrstuhl für Geschichte und Moral am Collège de France, der sich durch den Tod des Herrn Daunon erledigt fand. Kurz darauf wird er als Nachfolger des dahingeschiedenen Grafen Reinhard in die Akademie aufgenommen.

Bezeichnend ist es, daß der König Ludwig Philipp seiner Tochter Clementine von Michelet Unterricht in der Geschichte ertheilen ließ, doch ging der Professor nicht in die Tuilerien, sondern die Prinzessin kam zu ihm. Oefters wartete sie geduldig, wenn ihr Lehrer, durch Geschäfte veranlaßt, aus dem Hause war und sich später als zur festgesetzten Stunde einfand. Michelet hätte durch diese nahe Beziehung zum Hofe die größten Vortheile erreichen können; allein er hat es verschmäht, sie auch nur im Geringsten zu benutzen; er sah in der Prinzessin nichts weiter als seine Schülerin, die er in seiner Weise zu belehren, aufzuklären suchte. Er hat sogar das Anerbieten, ihn dem König vorzustellen, zurückgewiesen.

Am Collège de France bekämpfte Michelet mit Edgar Quinet um die Wette die Jesuiten, welche in Frankreich neue Niederlassungen und Schulen gründen wollten. Der Streit wurde heftig. Die beiden Professoren schlagen und treffen fürchterlich. Die erschreckten Väter, denen es an das moralische Leben geht, greifen ihrerseits mit allem Ungestüm die Professoren an, in wüthenden Hirtenbriefen und anderen frommen Schriften, sie erregen Michelet Stürme im Lehrsaal, außerdem wissen sie durch ihren weit reichenden und weit verzweigten Einfluß die Sache vor die Pairskammer und vor die Versammlung der Abgeordneten zu bringen Die Juliregierung, von allen Seiten durch diesen tausendköpfigen, tausendarmigen Einfluß bestürmt, sah sich bewogen, mit der Gesellschaft durch einen Abgesandten an den General derselben zu unterhandeln, und es wurde die Vereinbarung getroffen, daß die Jesuiten ihr Vorhaben, in Frankreich neue Gemeinschaften zu gründen, aufgäben und den Feindseligkeiten des Collège de France gegen die Gesellschaft Jesu Zügel angelegt würden. Edgar Quinet verließ den Lehrstuhl am Collège de France, weil sich das Ministerium herausnahm, ihm ein Wort in dem vorgelegten Programm zu streichen. Und Michelet setzte allein, unerbittlich, unerschütterlich den Kampf fort, ohne sich um das getroffene Abkommen zu kümmern, das er verachtet, ohne die Stürme zu beachten, die gegen ihn von allen Seiten heraufbeschworen werden. Er läßt (1844) das Buch: „Von dem Geistlichen, der Frau und der Familie“ erscheinen, welches heute eine bedeutende Rolle spielt und das ein besonderes Schicksal hat, wie weiter unten erwähnt wird.

Doch auch gegen die Regierung, die sich auf schlechtem Wege befand und den eben so dringenden als bescheidenen Forderungen der Nation einen starren Widerstand entgegensetzte, waren die Angriffe in den Vorträgen Michelet’s gerichtet. Und die verblendeten Staatsmänner am Ruder erblickten in einer Propaganda, die bereits im ganzen Lande gemacht war, eine Gefahr, sie hatten Angst vor Worten, die nichts weiter als ein beredter Ausdruck der allgemein vorherrschenden Stimmung waren, und schlossen 1847, den Tag vor ihrem Fall und vor dem Fall des Thrones, den sie stützten, dem Professor den Mund.

Im lateinischen Viertel entsteht eine Aufregung, so wie die Maßregel bekannt wird, die zu einem Aufstand anzuwachsen droht. Zweitausend Studenten vereinigen sich und rücken vor die Kammer der Abgeordneten, um von dieser die Wiedereinsetzung ihres Meisters in sein Lehramt zu verlangen. Die Schaar ward auf ihrem Zuge in allen Straßen von der Menge jubelnd begrüßt und durch Zuruf ermuthigt. Ein Blinder konnte sehen, daß Paris, und also Frankreich, zu den Studenten hielt. Die Kammer widersteht, wie die ausübende Gewalt, und überläßt es der Februarbewegung, Michelet seinen Lehrstuhl und der französischen Nation das verlangte Recht zurückzugeben.

Daß der Präsident Ludwig Napoleon einen öffentlichen Lehrer wie Michelet nicht dulden konnte, ist wohl nicht nöthig anzuführen, eben so wenig, als daß Michelet dem Kaiser Napoleon nicht den Schwur der Treue leisten wollte. Nach dem Staatsstreich gab er seine Stelle im Archiv auf. Seit jener Zeit lebt er zurückgezogen seiner Familie und seinen Arbeiten. –

Wir fuhren also, mein Freund und ich, zu Herrn Michelet. Wir traten in ein ganz gewöhnliches Haus, dem Luxembourg-Garten gegenüber, stiegen zwei Treppen hoch und klingelten. Eine Magd öffnete und wies uns, ohne uns anzumelden, in den Salon. Kannte sie meinen Freund, oder wird Jeder, der kommt, in dem Hause des Gelehrten gastlich aufgenommen, ich weiß es nicht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 409. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_409.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)