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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Geistesepidemien.
Ein Vortrag, gehalten in der naturforschenden Gesellschaft zu Görlitz von Hermann Reimer.
Nr. 2.


Der Kinder-Kreuzzug – Das Elberfelder Waisenhaus – Die Verzückungen der Camisarden – Die Convulsionen der Jansenisten – Die Predigt-Krankheit in den Lappmarken – Der Sinnenkitzel in der französisthen Revolution.

Im Jahr 1212, zu einer Zeit, wo das heilige Grab bereits wieder in den Händen der Saracenen war, fing in Frankreich, in Cloies, in der Nähe von Vendôme, ein gewisser Etienne, ein Hirtenknabe, das Kreuz zu predigen an. Seinen begeisterten Worten lauschte Jung und Alt, aber in den Kinderherzen schlug vor Allem die Flamme schwärmerischer Begeisterung zu einer stürmischen Lohe empor. Tausende strömten zusammen und ließen sich von den Reden des jungen Propheten fortreißen. Eine fieberhafte Sehnsucht nach dem heiligen Lande erfüllte bald die jugendlichen Seelen. Nach dem Meere! nach Jerusalem! das waren die Losungsworte, die von Munde zu Munde gingen. Vergebens versuchte der König Philipp August durch Gewaltmaßregeln den Strom der Begeisterung zu sperren. Schon fingen die Eltern an mitergriffen zu werden und rüsteten selbst die Kinder zum heiligen Kampf. Andere waren vernünftiger, sperrten ihre Kinder ein und hofften, daß die Schwärmerei erlöschen werde. Vergeblich, so leicht konnte der stürmische Drang nicht gehemmt werden. Die Kinder weinten und stöhnten Tag und Nacht, härmten sich ab, verschmähten Speise und Trank und verfielen in Zuckungen. Das Mitleid mit dem zarten Alter der Kreuzfahrer gewährte ihnen Pflege und Schutz, als sie die heißen Ebenen der Provence durchzogen. Oft freilich wurde die Gastfreundschaft durch den Verlust der eigenen Kinder gelohnt, welche von dem wunderbaren Triebe mitergriffen wurden. So kommen sie nach Marseille und wurden dort liebevoll aufgenommen. Zwei dortige Kaufleute, die Geschichte hat uns ihre Namen bewahrt, Hugo Ferreus und Guilelmus Porcus, thaten sich in scheinbarer Begeisterung für die heilige Sache hervor, ja sie versprachen sogar, auf sieben großen Schiffen um Gotteslohn die Knabenschaar bis an die Küste des heiligen Landes zu führen. Man traut ihren gleißnerischen Worten und sticht in See. Zwei von den Schiffen scheitern, ohne daß auch nur Einer der darauf Befindlichen mit dem Leben davon gekommen wäre. Den Uebrigen aber war ein noch traurigeres Loos vorbehalten: sie wurden die Opfer des tückischen Verrathes, den die eigennützigen Unternehmer von Anfang an beabsichtigt hatten. Die fünf Schiffe nehmen ihren Lauf nach der ägyptischen Küste. Hier wird gelandet und sämmtliche Kinder als Sclaven an die Saracenen verkauft. So nahm die französische Kinderfahrt ein jämmerliches Ende. – Etwas besser, aber immer noch schlimm genug, lauten die Nachrichten über zwei Kinderheere, welche ohne die geringste Ahnung des französischen Kreuzzuges von Deutschland aus die Alpen überschritten und so Italien und das Mittelmeer zu gewinnen suchten. Das eine ging unter der Führung eines gewissen Nicolaus den Rhein hinauf über den Mont Cenis und erreichte im August, noch 7000 Köpfe stark, Genua. Auf diesem beschwerlichen Wege über damals noch ganz unwirthbare Alpenpässe läßt sich annehmen, daß ein großer Theil schon unterwegs ein Opfer der Strapazen geworden oder zurückgeblieben sei. Die Genueser aber waren von diesem Zuzuge keineswegs erbaut, ja sie schlossen ihm geradezu die Thore. Erst nach mühsamer Capitulation erlangte man Einlaß. Aber die besonnene Kritik, die man hier an das hirnlose Unternehmen legte, wirkte abkühlend auf die jugendlichen Schwärmer. Sie zerstreuten sich, bettelten sich unter dem Hohngelächter der Leute nach Hause zurück oder traten in Dienste, um ihren Lebensunterhalt zu gewinnen. – Von dem zweiten Zuge deutscher Kinder wissen wir nur sehr wenig. Er nahm seinen Weg über die Gotthardstraße nach der Lombardei und soll sehr bald an der Schlechtigkeit der Wege, an der Rauhheit des Klima’s und an der Härte und dem Eigennutz der Leute gescheitert sein. Viele der Kinder scheinen diesen Anstrengungen unterlegen, andere ebenfalls Sklavenhändlern in die Hände gefallen zu sein. Man schätzt die Zahl der Kinder, die bei diesen Kreuzfahrtspielen zu Grunde gingen, gegen 60,000, wahrlich eine ernste Mahnung, wie sorgfältig der Geist der Kinder vor Allem zu bewahren ist, was die Phantasie erhitzt, und daß man ja bei Zeiten einschreiten müsse, wo excentrische Stimmungen und eine einseitige Richtung der Gedanken zu ungeregelten Bewegungen fortreißen. Glauben Sie nicht, daß diese Warnung in unserm scheinbar so vorgeschrittenen, scheinbar so aufgeklärten Zeitalter eine überflüssige wäre. Nichts ist thörichter, als solchen Erfahrungen gegenüber sich durch die Fortschritte unseres Jahrhunderts sicher zu fühlen; denn nach der Organisation unseres Nervensystems können sie sich täglich wiederholen, und man muß sie kennen, um sich davor zu schützen. Lassen Sie mich zum Beweise dessen hier gleich an ein Beispiel erinnern, welches der allerneuesten Zeit angehört und welches, wenn auch nur von geringem Umfange, die aus einer intensiv-religiösen Stimmung sich entwickelnden Bewegungen und ihre Uebertragung klar genug veranschaulicht.

Es war im Januar vorigen Jahres, als von dem Vorstande des Waisenhauses in Elberfeld eifrige Bet- und Bußübungen angeordnet wurden, um bei den Kindern, deren Leichtsinn den Vorgesetzten Sorge machte, einen Zustand tiefer Reue und Zerknirschung hervorzurufen. Wirklich gelang es auch, die Geister dieser Kinder so vorwiegend und ausschließlich mit dem Gefühl der Buße und Vergebung zu erfüllen, daß krankhafte Erschütterung des Nervensystems die Folge war. Zuerst fing eines der Mädchen an, still zu sitzen, sich von den übrigen abzusondern und über Seelenangst und Sündennoth zu klagen. Sie weinte, stöhnte und wälzte sich auf dem Fußboden umther. Bald fand sich ein zweites, ein drittes Kind hinzu; unter frommen Anrufungen, unter häufigem Citiren von Bibelsprüchen steigern sich die Empfindungen der Angst und gehen schließlich in die heftigsten Convulsionen, ja sogar in Starrkrampf über. Anfangs Februar lagen zwanzig Knaben darnieder, in der folgenden Woche belief sich die Zahl sogar aus dreiunddreißig, und die Convulsionen waren so stark, daß die Kinder kein Wort mehr sprechen konnten. So weit war die Epidemie gediehen, als ihr durch eine strenge Untersuchung und durch geeignete Eingriffe ein Ziel gesetzt wurde.

Man stößt aber, wenn man die Elberfelder Epidemie näher in’s Auge faßt, auf andere viel umfangreichere Bewegungen, welche jenseits des Canals und jenseits des Oceans ihre Heimathstätte haben, man stößt auf die irischen und amerikanischen Erweckungen oder Revivals, über die Ihnen vielleicht Einiges aus den Berichten der Times erinnerlich ist. Diese Revivals, die noch zu dieser Stunde in Irland im Schwunge sind, sind aber wieder die Frucht der Methodisten-Predigten, welche schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ihren Anfang nahmen, und in denen ängstliches Stöhnen und Jammern, Händeringen und Convulsionen ganz gewöhnlich waren. Es steht fest, daß die Nachrichten über die irischen Erweckungen in Elberfeld ausgebeutet wurden und daß die Gemüther der Kinder davon erfüllt waren.

Geistesepidemien, durch einseitige religiöse Geistesrichtung hervorgerufen, hat aber jedes Jahrhundert in so großer Zahl aufzuweisen, daß mir nur die flüchtige Erwähnung der bekanntesten gestattet ist. Hierher gehören die Verzückungen der Camisarden. Als nämlich nach Aufhebung des Edicts von Nantes die Reformirten in Frankreich erneuten Verfolgungen ausgesetzt waren, trat das religiöse Element bei ihnen nur um so schärfer hervor. Propheten standen unter ihnen zu Hunderten auf, und Convulsionen begleiteten ihre Gesänge und Predigten. Es liegt etwas Poetisches in dieser Schaar von Gottesbegeisterung entflammter Menschen, wie sie in ihren heimschen Bergen den Gefahren trotzen, mit denen sie von allen Seiten bedroht sind, wie sie unter Absingung feierlicher Hymnen in die Schlacht ziehen, wie sie die Weissagungen aus der Offenbarung, die die vom Krampf Befallenen in kurzen Sätzen ausstoßen, voll Gottvertrauen hinnehmen, und Sie finden die Verzückungen der Camisarden in einer reizenden, leider unvollendeten Novelle von Tieck „der Aufruhr in den Cevennen“ in diesem Lichte betrachtet.

Weit bedeutender und weit nachhaltiger war die als „Convulsionen der Jansenisten“ bekannte Epidemie. Die religiöse Seele der Jansenisten stand nämlich zu Anfang des 18. Jahrhunderts mit den Jesuiten oder Ultramontanen in heftigem Kampfe. Im

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_378.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)