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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

wanderte man dem Thale zu, an der Mühle und der Herberge der Holzknechte vorüber. Einem der Burschen fiel es ein, in der Hütte nachzusehen, ob auch da von der Sennerin nichts gehört oder gesehen worden war. Schlaftrunken kam der Bewohner herbei und beantwortete die Fragen der späten Besucher; bei dem Lichte ihrer Laternen erblickten sie Quasi, der aus der Ofenbank lag und schlief.

Der Schein der Lichter, der ihm auf’s Gesicht fiel, der Lärm der Stimmen weckte ihn – er sprang auf; bei dem Anblick der Versammelten verflog der Rest der Betäubung und des Schlafes, und eine entsetzliche Ahnung des Geschehenen schlug wie ein Blitzstrahl in seine Seele. Mit einem Sprunge war er in der Thüre, blickte in die Schneewüste hinaus und sank mit einem herzbrechenden Schrei, das Gesicht in den Händen verbergend, in die Kniee. „Die Kordel!“ schrie er entsetzt. „Jesus, Maria und Joseph … sie suchen die Kordel! Sie ist verschneit, und ich bin schuld daran. …“ In der ausbrechenden Wuth des ersten leidenschaftlichen Schmerzes zerraufte er sich das Haar und zerschlug sich Brust und Gesicht, er mußte mit Gewalt abgehalten werden, sich den Kopf an der Wand zu zerstoßen. Nur nach und nach und aus einzelnen Worten erfuhren die Landleute, was vorgefallen war, und beriethen eben, was zu thun sei, als der Pfarrer herankam. Er war mit den Sterbesacramenten herausgeeilt, um die Unglückliche, falls sie gefunden und nicht mehr zu retten sein sollte, mit den letzten Tröstungen des Glaubens zu stärken. „Jetzt wissen wir wohl die Richtung, die sie eingeschlagen hat,“ schloß der Bauer seinen Bericht an ihn, „aber es nutzt uns nichts – gerade dorthin ist die Lahn niedergegangen. …“

„Für das arme Mädchen,“ sagte erschüttert der Vicar, „ist es zu Ende mit Menschenhülfe und Menschentrost … wir vermögen nichts mehr, als sie Dem zu empfehlen, der da noch helfen und trösten kann! Wir wollen beten, daß er sie gnädig zu sich aufnehme, und wenn sie noch nicht überstanden hat, daß er sie vor Verzweiflung bewahre und stärke in ihrem furchtbaren Todeskampf.“

Der Pfarrer stand vor der Thüre der Hütte und ertheilte mit erhobener Monstranz den Segen nach dem Berge hinauf, wo Kordel lag. Der Meßner klingelte, und wie um ein Sterbebett knieten die Bauern entblößten Hauptes im Schnee und sprachen das Gebet des Herrn für das Heil der armen Seele.

Quasi hatte den Augenblick, als man seiner nicht achtete, benützt und war entflohen.

– Schnell war der Winter auf seinen Lieblingsthron in den Bergen gestiegen, streng hatte er ihn behauptet und nur mit widerwilligem Zögern schien er ihn verlassen zu wollen. Die Sonnenseite des Thals, der minder steile, breit gedehnte und fast überall urbar gemachte Lattenberg war schon schneefrei, während noch kein Sonnenstrahl die Schattenseite mit dem Steinberg getroffen hatte, und dort höchstens durch die allgemeine Erwärmung der Luft die oberste Schicht der Schneedecke sich zu erweichen und zu schmelzen begann. Endlich stürzten die Bergquellen und Bäche rauschender und übervoll in das Thal, als lebende Eilboten, daß auch hier die Herrschaft der Kälte gebrochen war und der Thauwind mit lauem Flügelschlag über den erstarrten Höhen dahinzog.

Eines Abends saß Evi auf der Hausbank vor der Ledermühle, die Mutter Kordel’s neben ihr. Sie war nicht von der Mühle gewichen und hatte den Alten als Magd gedient und sie wie eine Tochter gepflegt. Die letzten Worte der Freundin waren ihr ein heiliges Vermächtniß und ein Auftrag, den sie treulich erfüllen wollte. Ohne ihn, ohne das Geheimniß, das noch über Kordel’s Schicksal lag, wäre sie lang aus der Ramsau hinweggezogen, in welcher ihr so zu sagen auf Schritt und Tritt traurige Erinnerungen entgegen traten. Die Müllerin war noch hagerer als früher, und die frühere Lebhaftigkeit schien von ihr gewichen zu sein. Das traurige Loos des einzigen Kindes hatte sie erschüttert, aber sie wollte gefaßt erscheinen und war darüber in sich gekehrt und finster geworden. Sie trug die unverkennbaren Zeichen eines rasch entwickelten zehrenden Zustandes an sich, und die fliegende Fieberröthe der eingefallenen Wangen machte die Schminke überflüssig. Schweigend, die Spinnrocken vor sich, saßen Beide; Evi’s Gedanken aber schwebten um das noch immer unbekannte Grab der Freundin. Sie erinnerte sich der trüben Ahnung, die beim Abschiede von ihr sie auf einmtal überkommen hatte, des Widerstrebens, mit dem sie gegangen war; sie machte sich Vorwürfe darüber, daß sie es gethan, und wurde nicht müde, sich in träumerischer Selbstqual jedes Wort, jede Gebehrde der Unglücklichen in’s Gedächtniß zu rufen. Welch’ eine Fülle von Leiden war schon von diesen Bergen auf sie hereingestürmt – sie begriff selber nicht, woher sie die Kraft genommen, ihr nicht zu erliegen. Zwei Menschen, die ihr die besten Freunde gewesen, waren ihr in schrecklicher Weise entrissen worden … und als sie des Dritten, des Allerbesten gedachte, da brach ihr beinahe das schwergeprüfte Herz, und unbewußt schossen ihr die Thränen aus den Augen.

Die Müllerin achtete nicht darauf, aber der arme Blöde, der an der Schwelle gekauert lag, kam herbeigekrochen, zupfte sie am Rock und sah ihr mit dem traurigen verstörten Gesicht in die weinenden Augen empor, als wolle er sagen, daß er recht gut wisse, wem diese Thränen galten.

Nach einiger Zeit ertönten Fußtritte den Bergweg herauf, und der Brigadier schritt auf die Mühle zu, in welcher er seit Kordel’s Anwesenheit ein nicht seltener Gast gewesen war. Er blieb nach kurzem Gruße vor dem Hause stehen, daß Evi aufmerksam wurde und ihn genauer ansah. „Sie bringen eine neue Botschaft,“ sagte sie, „ich sehe es Ihnen am Gesichte an …“

„Die bring’ ich wirklich,“ erwiderte der Brigadier mit traurigem Ernste, „eine erfreuliche und doch gar sehr betrübte Botschaft! Ich bin eigens heraufgekommen, unm es Euch in aller Ruhe zu sagen … Jetzt sind alle Zweifel gehoben … sie ist gefunden …“

Evi’s Thränen strömten stärker; die Müllerin saß unbeweglich, als ob das Gehörte sie gar nicht berühre – der Blöde horchte und schien sich aufrichten zu wollen.

„Seit der Schnee etwas weg ist,“ fuhr der Mann fort, „ist kein Tag vergangen, an dem nicht gesucht wurde. Es hat sich recht gezeigt, wie allgemein beliebt das Mädchen war, und ich bin sehr charmirt, daß man ihr Gerechtigkeit hat widerfahren lassen … so eben sind sie hinauf mit dem Sarg, um sie herunterzubringen – morgen um neun Uhr findet die feierliche Beerdigung statt.“

Evi wollte etwas fragen, aber die Stimme versagte ihr.

„Ich weiß, was Du wissen willst,“ fuhr der Brigadier fort, „ich kann’s errathen … Sie lag keine zwei Schußweiten von der Bergschneide entfernt, dort wo die Schlucht heruntergeht … unter ein paar Felsblöcken lag sie da – in sitzender Stellung … den Rosenkrauz um die Finger gewunden … einen verdorrten Blumenkranz im Schooß … den Kopf ein wenig vorgeneigt, wie ein Schlafender … sie scheint nicht hart hinübergegangen zu sein …“

Dem festen Manne bebte die Stimme bei dem Bericht; die Müllerin stand hastig auf. „Wir müssen einmal Alle sterben …“ sagte sie hart und verschwand im Hause. Der Alte lag mit dem Gesicht im Grase und regte sich nicht. Der Brigadier nickte Evi noch zu: „Um neun Uhr … morgen …“ und war hinter den Bäumen verschwunden.

– Am andern Tage war die ganze Bevölkerung der Gegend in Bewegung. Die Ramsau ist nach uraltem Gebrauche in vier „Gnotschaften“ getheilt, die sämmtlich Eine Gemeinde ausmachen und deren Mittelpunkt die Kirche ist. Von dieser aus sind gerade Linien kreuzweise übereinander gezogen und so die Gnotschaften gebildet. Für je zwei derselben ist an dem das Thal durchziehenden Sträßchen eine sogenannte Todtencapelle erbaut, deren eine in der Richtung gegen die Wimbach und den Kniebis, die andere nach der Reualm und der Schwarzbach-Wacht hin steht. Bis zu diesen Capellen werden die Leichen aus den zerstreuten und hoch gelegenen Gütern und Häusern von ihren Angehörigen auf den Schultern heruntergetragen, oder wo der Weg es gestattet, auch auf Karren und sonstigem Fuhrwerk heruntergebracht. Dort erwartet sie der Pfarrer, um sie auszusegnen und, als kämen sie unmittelbar aus dem Sterbehause, nach dem Kirchhofe zu begleiten.

Eine zahllose Menschenmenge drängte sich um die Capelle auf dem Reichenhallersträßchen, denn Jung und Alt nahm an dem traurigen Geschicke der armen Kordel Antheil, und wer es irgend möglich machen konnte, unterließ es nicht, ihr die letzte Ehre anzuthun und ein Vaterunser für sie zu sprechen. Lautes Weinen und Rufen der Klage entstand, als die Männer, die sie aufgesucht hatten, mit dem Sarge herangeschritten kamen, auf den sie einen Kranz von den ersten Frühlingsblumen gelegt und damit Hut und Bergstock der Verunglückten verziert hatten – war sie doch in ihrem Berufe gestorben und im Sinne des Volkes der Auszeichnung so würdig, wie der in der Schlacht gefallene Krieger, dem man den bekränzten blutigen Degen auf die Truhe legt. Zwischen den Stimmen des Jammers und der Trauer wurde auch manche der Erbitterung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_276.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)