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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

mit dem Nöthigen versehen lassen, so soll Ihnen kein Haar gekrümmt, auch der Staub soll Ihnen nicht gekehrt werden.“

Blücher setzte noch hinzu, er sei seit drei Wochen von einem stärkeren französischen Corps verfolgt, habe sich fast täglich schlagen müssen und sei dadurch auf’s Aeußerste ermüdet; er wolle hier nur eine kurze Zeit der Ruhe genießen und sich im Falle eines Angriffs in das Holsteinische ziehen, um sich dort zu schlagen; jetzt ersuche er um Gotteswillen (was er einigemal wiederholte), daß man ihm helfen möchte.[1] Er requirirte deshalb eine augenblickliche Lieferung von 80,000 Broden aus Roggen und Weizen, 40,000 Pfd. Ochsen- oder Schweinefleisch, 30,000 Flaschen Wein und Branntwein, 50,000 Stück holländ. Ducaten, augenblickliches Quartier für seine Truppen, Fourrage für 5000 Pferde und den sämmtlichen Vorrath an Pulver und Blei, – dann sollten sämmtliche Einwohner auf’s Schonendste behandelt werden!

Man erwiderte ihm, Geld könne ohne Bewilligung der Bürgerschaft nicht verabfolgt werden, Pulver sei wenig, Blei gar nicht vorhanden, in Bezug auf Quartier, Verpflegung und Fourrage solle das Mögliche geschehen. Mit diesem Bescheide entfernte sich Blücher, dem es vor allen Dingen um Unterbringung seiner Truppen zu thun schien, und diese wurde denn auch in kürzester Frist beschafft. – Nur am Rathhause blieb eine Lübische Wache; die übrigen Wachthäuser und Thore besetzten die Preußen; Artillerie, Munitionswagen und Bagage standen auf den öffentlichen Plätzen, die Pferde vor den Kanonen.

Am 6. November Morgens von 4 Uhr an besetzten die Preußen die Thore – mit Ausnahme des Holstenthors, durch welches der eventuelle Rückzug gehen mußte, – mit Artillerie; um 6½ Uhr wurde Alarm geschlagen; die Gassen wimmelten von Soldaten; Alle schienen ernst und in sich gekehrt; wer ein wenig zögerte, wurde mit dem Stocke herbeigetrieben; die Meisten nahmen im Gehen ihr Frühstück ein.

Etwas nach 9 Uhr erfuhr man in der Stadt, daß französische Cavallerie bereits mit der preußischen eine halbe Stunde vor der Stadt im Handgemenge sei und obsiege und daß drei französische Corps gegen die Stadt anrückten: Bernadotte über Schwerin und Schönberg, Murat über Ratzeburg und Grönau, Soult über Schönberg und Crumesse. –

Die Preußen hatten inzwischen die Thore und Wälle der Stadt möglichst stark mit Artillerie armirt, doch gehört die detaillirte Beschreibung ihrer Aufstellung ebenso wenig in diese Skizze, wie diejenige der sich immer mehr und mehr entspinnenden Gefechte außerhalb der Thore. Blücher, mit seinem Adjutanten zu Pferde, ritt beständig von einem Posten zum andern, aus einer kurzen Stummelpfeife rauchend, die er fleißig aus seinem am Sattel hängenden Tabaksbeutel stopfte und wozu er sich das Feuer selbst schlug. Er trug einen einfachen blauen Ueberrock, runden Hut ohne Abzeichen und einen Säbel. Unter ihm commandirte am Burgthor der Herzog (Prinz) von Braunschweig-Oels.

Der Senat hatte sich schon früh wieder versammelt und in Anbetracht der überall sichtbaren Defensiv-Anstalten beschlossen, den General Blücher durch eine Deputation an sein Versprechen zu erinnern, die Stadt verlassen zu wollen. Es war noch nicht halb neun, als die Deputation den General auf einem der öffentlichen Plätze – dem Kuhberge – zu Pferde haltend fand. Er antwortete: die Umstände hätten sich seit gestern geändert; der Feind sei ihm näher, als er geglaubt, und an Abzug, da bereits alle Defensiv-Anstalten getroffen wären, nicht zu denken; er werde sich vielmehr bis auf den letzten Mann zu halten suchen. Der Senat möchte befehlen, daß die Bürger in den Häusern blieben und Alles wohl verschlossen hielten; er wäre gezwungen, sich nicht nur vor, sondern auch in der Stadt zu schlagen.

Um 11 Uhr warf die preußische Cavallerie die französische noch einmal bis auf eine halbe Stunde vor Lübeck – nach Irweladorf – zurück, aber dieser Erfolg war nur ein vorübergehender. Sie wurde auf’s Neue zurückgeschlagen, und jetzt nahm der Herzog von Braunschweig sie hinter die Kanonen und in die Stadt zurück. Auch die preußischen Batterien, die noch im Freien gestanden, mußten hinter die Barrieren gezogen werden, und die französischen Colonnen begannen den unmittelbaren Sturm. Sie litten außerordentlich, doch wurden die Leute, so wie sie fielen, vom Platze gebracht. Schon ließ Bernadotte größere Kanonen herbeiführen, um zündende Geschosse in die Stadt zu werfen, während man an anderen Thoren bereits ungefüllte Granaten warf: – da wurde der Feind durch einen Zufall Herr der Stadt.

Die zum Burgthor führende Straße wird durch einen breiten Damm gebildet, welcher die Trave von der Wackenitz scheidet. Ein Regiment Corsen stand in der Wackenitztiefung vor den Kugeln fast geschützt. Ein Tambour desselben watete dicht am Damme entlang bis an das Geländer eines Gärtchens, das zu einem nahe innerhalb der Barriere liegenden Häuschen, der sogenannten Brauer-Wasserkunst, gehörte. Ihm folgten alsbald sechs bis acht Corsen. Sie fanden einen kleinen versteckten Fußsteig, der bei dem Bau eines Lusthauses im Sommer zur Herbeischaffung von Materialien gedient. Dadurch gelangten sie bis an das neugebaute Lusthaus in dem Rücken der Barriere und somit der hier aufgestellten Batterien; bei dem starken Gewühl und Dampf wurden sie nicht sogleich bemerkt. Plötzlich begann der Tambour die Trommel stark zu rühren, die ihm Gefolgten feuern den Preußen in den Rücken, und so wie diese in augenblicklicher Bestürzung ihre Kanonen schweigen lassen, stürmt Bernadotte die Barriere und dringt in die Stadt.

Der Herzog von Braunschweig soll kurz vor diesem entscheidenden Moment sein Commando einem Obristlieutenant übergeben haben. In dem von Blücher nach Berlin gesandten Berichte werden dem Herzoge die bittersten Vorwürfe gemacht.

Das Gefecht wogte nun in den Straßen hin und her; mehrmals warf Blücher selbst die Franzosen große Strecken zurück. In diesem Gewühl war es auch, daß der Oberst von York – der spätere General York von Wartenburg – welcher bereits blessirt nach Lübeck gekommen war, abermals schwer verwundet auf das Pflaster niedersank und unter die Füße getreten wurde.

In den Straßen wurde mit Kanonen geschossen; bald wurden auch die übrigen Thore von innen geöffnet, und die Preußen konnten sich nun nicht mehr halten. Wer nicht gefangen oder niedergemacht war, zog sich fechtend durch das Holstenthor zur Stadt hinaus. Etwa um 3½ Uhr Nachmittags befand sich Lübeck gänzlich in den Händen der Franzosen. Die Divisionen Murat’s und Soult’s waren inzwischen auch eingezogen; in allen Straßen stand es gedrängt voll; die Verwundeten wurden in die Kirchen, das neugebaute Waisenhaus und andere größere Häuser gebracht.

Der letzte entscheidende Angriff der Franzosen geschah unter dem fürchterlichen Geschrei: à la mort! à la mort! – bald darauf erscholl Victoria! über Victoria! – Jetzt sandte der während der ganzen Zeit versammelt gebliebene Senat eine Deputation an Bernadotte, die ihn auf der Straße zu Pferde haltend traf. Er hörte sie gnädigst an, gab das Versprechen, Stadt und Senat möglichst zu schützen, erklärte aber zugleich, daß fortan, da er die Stadt erobert habe, die Befehle von ihm ausgehen würden und daß er den Colonel Maison zum Commandanten der Stadt ernenne.

Den drei commandirenden Generalen wurden sogleich Quartiere angewiesen, aber an ein regelmäßiges Einquartieren der Mannschaften war nicht zu denken. Ueberdies hatten sich fast alle Bürger in ihren Häusern eingeschlossen. So kam es, daß viele Officiere und Soldaten sich mit Güte oder Zwang selbst Quartiere suchten. Das Militär, welches die Stadt als eine feindliche und erstürmte ansah, war kaum aus den Gliedern getreten, als es die Hausthüren und Fensterläden der Bürger einzuschlagen begann. Wer sein Hab und Gut nicht freiwillig hergab, wurde ohne Ansehen der Person geschlagen, gemißhandelt oder gemordet. Die Schränke mußten geöffnet werden; was den Plünderern gefiel, nahmen sie; was sie nicht wegbringen konnten, zerschlugen und vernichteten sie; Vielen rissen sie die Kleider vom Leibe. Ueber hundert, zum Theil angesehene Bürger flüchteten auf das Rathhaus. Mit zerrissenen Kleidern, oft halb entblößt, erschienen sie mitten im Gewühle von Officieren, Fourieren und Requisiteuren, deren Forderungen unerschwinglich waren und sogleich ausgeführt werden sollten; sie weinten, schrieen und pochten, daß man sie aus den Häusern getrieben, daß man ihnen nichts als die Lumpen gelassen. Man ließ die an Bernadotte abgefertigte Deputation auch zu Murat und Soult sich verfügen und um Schonung flehen, wie um geschärfte Ordre, daß das Eigenthum der Bürger nicht verletzt werde. Die Befehlshaber bedauerten das Unwesen ihrer Soldaten sehr; der Soldat habe geglaubt, da die Stadt mit Sturm genommen sei, nach der raison de guerre plündern zu dürfen, indessen solle dem bald Einhalt gethan werden. Dessenungeachtet dauerte dieser Zustand die Nacht hindurch bis in den nächsten Tag. Erst als der Senat Bernadotte wiederholt um Schonung angefleht und

  1. WS: Im Original fehlenden Punkt ergänzt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_265.jpg&oldid=- (Version vom 30.4.2018)