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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

den Raum zwischen dem Dachfenster und dem Lattengitter und blickten bei schwachem Mondlicht in die schwindelerregende Tiefe. Unten in der Potsdamer Straße warteten Carl Schurz und Falkenthal, und der Gutsbesitzer X. hielt dort mit seinem Fuhrwerk, auf dem Bocke sitzend und die Zügel in der Hand haltend, um in jedem Augenblick davon jagen zu können.

Der Abrede gemäß warf Brune ein Stückchen Holz an einem langen Bindfaden auf die Straße, zog es, als er fühlte, daß unten etwas angebunden war, herauf und bekam nach etwa fünf Minuten ein etwa fingerstarkes Tau in die Hand, welches Beide sofort an einer Latte des dem Fenster gegenüberliegenden Gitters befestigten. Sodann stieg Kinkel mit einem Fuß auf die Latten und kroch mit dem Kopfe zuerst durch die Dachluke hinaus, um sich an dem Tau auf die Straße hinunterzulassen.

„Es war ein grausiger Anblick,“ erzählte mir später der Gutsbesitzer X., ein Anblick, welcher mir noch augenblicklich, wenn ich ihn mir in Erinnerung rufe, das Blut in den Adern erfrieren macht. Nachdem wir längere Zeit in ängstlicher Spannung das Dachfenster beobachtet hatten, ward der Bindfaden aus demselben heruntergelassen. Es war dies ein sicheres Zeichen, daß bis dahin Alles glücklich abgegangen war. Aber nun kam das gefährliche Experiment, von dem der Tod oder die Freiheit Kinkel’s abhing. Das eine Ende des Taues wurde von Schurz und Falkenthal an dem Bindfaden befestigt, und darauf ward es an letzterem in die Höhe gezogen. Nun mußte Kinkel jeden Augenblick aus dem Dachfenster hervorkommen. Unverwandten Blickes schauten wir hinauf. Endlich sahen wir den Kopf eines Menschen, der Körper folgte nach. Einen Augenblick später hing Kinkel dicht unter dem Dachfenster am Tau und fing an, sich herabzulassen. Aber gerade in diesem Moment entstand ein Geräusch in der benachbarten Straße. Ein jäher Schreck erfaßte mich, ich glaubte uns entdeckt. Auch Kinkel hatte das Geräusch gehört. Er hielt an. Ich sah ihn mit seiner im blassen, schwachen Mondlicht gespensterhaft erscheinenden langen Gestalt dort oben zwischen Himmel und Erde eine Zeitlang unbeweglich hängen, wie wenn er unschlüssig gewesen wäre, ob er wieder in die Höhe oder ob er herabklettern sollte. Der Schreck konnte ihm die Besinnung rauben, oder die Kraft konnte ihm versagen. Wäre er herabgefallen, so wäre er auf das Straßenpflaster gestürzt und unfehlbar auf der Stelle ein Mann des Todes gewesen. Aber das Geräusch ging glücklich vorüber, es schien durch einen zufällig vorüberfahrenden Wagen veranlaßt zu sein. Wenige Secunden später lag Kinkel in den Armen seines Freundes Carl Schurz.

In höchstens einer Minute nach dem Verschwinden Kinkel’s aus der Dachluke fühlte Brune, daß das Tau leicht wurde, und er band es los, worauf es sammt dem Bindfaden auf die Straße hinuntergezogen wurde. Dann entfernte er sich eiligst und begab sich wieder auf seinen Posten.

Im Krüger’schen Gasthofe war noch die lustige Punschgesellschaft versammelt. Die Mitternachtstunde hatte noch nicht geschlagen. Einer der Festgenossen – nach einem Schreiben des Staatsanwalts Nörner an das Bützower Criminalcollegium vom 21. Febr. 1855 war es der Gastwirth Krüger selbst – füllte einige Gläser, indem er zu den Gästen lächelnd sagte: „Sie erlauben wohl, meine Herren, es sind ein paar lustige Berliner Vögel da,“ und ging darauf mit den gefüllten Gläsern nach einem einfenstrigen Nebenzimmer. Kinkel hatte sich inzwischen mit Carl Schurz und Falkenthal in das Krüger’sche Gasthaus begeben, um sich dort umzukleiden. Er wechselte in dem Nebenzimmer, in welches Krüger mit den gefüllten Gläsern eintrat, die graue Züchtlingskleidung mit einem schwarzen Anzuge von Tuch. Den eleganten Pelzrock, welchen er überzog, hatte seine Frau ihm von Bonn geschickt, um sich desselben bei der Flucht zu bedienen. „Jetzt, Herr Professor,“ sagte Krüger zu Kinkel, indem er ihm eins der gefüllten Gläser präsentirte, „sollen Sie einmal mit Ihren Beamten, die da nebenan zechen, aus einer Bowle trinken.“ Dieser Scherz erweckte trotz der Gefahr des Augenblicks große Heiterkeit. Man stieß leise an auf Kinkel’s Wohl und den ferneren glücklichen Erfolg des Unternehmens. Kinkel und Schurz, begleitet von den Segenswünschen ihrer zurückbleibenden Freunde, begaben sich darauf zu dem in der Nähe befindlichen Wagen, auf welchem der Gutsbesitzer X. ihrer harrte, und stiegen hinein.

Sie fuhren in rasender Eile durch das Potsdamer Thor, welches dem Oranienburger Thor entgegengesetzt liegt. Als sie eine Zeit die Chaussee nach Nauen entlang, einem Städtchen an der Berlin-Hamburger Eisenbahn, gejagt waren, bogen sie rechts ab in einen Nebenweg. Dies Manoeuvre führte demnächst, wie beabsichtigt, ihre Verfolger irre. Als diese am andern Tage von den Thorwächtern erfuhren, daß in der Nacht durch das Oranienburger Thor Niemand, wohl aber, daß nach Mitternacht ein Wagen durch das Potsdamer Thor in sausendem Galopp gefahren sei, glaubten sie, daß die Flüchtlinge entweder nach Nauen oder auch nach Potsdam geflohen wären, und setzten ihnen in diesen Richtungen nach.

Der Gutsbesitzer X. hatte seine stärksten und schnellfüßigsten Pferde ausgewählt. Ueber Stock und Stein ftogen sie davon. Sie passirten Hohenfelde, Nieder-Neuendorf, Henningsdorf und erreichten beim Sandkruge die Berlin-Strelitzer Chaussée. Ohne Rast und Aufenthalt ging’s vorwärts über Oranienburg, Teschendorf, Löwenberg bis nach dem acht Meilen von Spandau entfernten Städtchen Gransee. Die Flüchtlinge wollten ohne Unterbrechung weiter, um die nur noch eine Meile entfernte Mecklenburg-Strelitzsche Grenze zu erreichen. Aber es ging nicht. Die armen ausgehungerten und abgejagten Pferde, denen der Schaum vor dem Maule stand und der Schweiß stromweis heruntertroff, hätten todt niederstürzen können, wenn man ihnen nicht eine kurze Erholung gegönnt hätte. Deshalb ward in Gransee stillgehalten und gefüttert, aber ohne auszuspannen. Nach einer halben Stunde erfolgte der Aufbruch. Die braven Thiere waren durch die kurze Ruhe und die erhaltene Nahrung neu gekräftigt. Wiederum gings en pleine chasse vorwärts, bis die Flüchtlinge die Strelitzsche Grenze bei Dannenwalde erreichten. Sie athmeten hoch auf, als sie das mecklenburgische Wappen erblickten. Die dringendste Gefahr war überstanden. In Dannenwalde machten sie kurze Rast. Der Gastwirth daselbst hat später gerichtlich ausgesagt, daß am 7. November Morgens 8 Uhr zwei Fremde in einer Chaise mit zwei dunklen abgetriebenen Pferden bei ihm angekommen wären. Ihr Kutscher (es war der Gutsbesitzer X.) hätte einen großen schwarzen Bart gehabt. Das eine Pferd sei so krank gewesen, daß derselbe es mit warmem Wasser gewaschen hätte. Es wäre ihm aufgefallen, daß die Fremden mit ihrem Kutscher wie mit ihres Gleichen verkehrt hätten. Von Dannenwalde fuhren die Flüchtlinge in langsamerem Tempo nach der Strelitzschen Stadt Fürstenberg, wo sie anhalten und ausspannen mußten, weil die Pferde keinen Schritt mehr vorwärts konnten. Erst nach einem längern Aufenthalt ging die Fahrt weiter nach Strelitz, wo sie etwa um 1 Uhr Mittags bei dem Stadtrichter Petermann eintrafen. Die Pferde hatten also fast in einer Tour einen Weg von 13 Meilen zurückgelegt.

Im gastlichen Hause von Petermann ward ein solides Mittagsmahl genommen. Der Gutsbesitzer X. blieb in Strelitz zurück, um, sobald seine erschöpften Pferde es vermochten, wieder zurückzufahren. Kinkel und Schurz dagegen fuhren um 3 Uhr Nachmittags, nachdem sie sich von X. in tiefer Rührung und mit dem innigsten Dank verabschiedet hatten, in Begleitung Petermann’s weiter, der es bereitwilligst übernommen hatte, sie schleunigst nach Rostock zu expediren. Beim Tannenkruge vor Neubrandenburg wollten sie die Pferde wechseln, aber sie konnten dort keine erhalten. Sie mußten daher nach Neubrandenburg hineinfahren, wo sie sich, ohne aus dem Wagen zu steigen, frische Pferde zu verschaffen wußten. Diese brachten sie über Stavenhagen und Malchin nach Teterow. Sie kamen hier in der Nacht an und klopften den mit Petermann befreundeten Zimmermeister Zingelmann aus dem Schlaf. Derselbe zündete Licht an, öffnete die Thür und hieß sie herzlich bei sich willkommen. Von der rauhen Nachtluft durchkältet, erwärmten sie sich an der angeschürten lodernden Flamme und erquickten sich an dem ihnen vorgesetzten warmen Kaffee. Inzwischen hatte Zingelmann frische Pferde bestellt. Sie fuhren mit denselben in einer Tour über Lage nach Rostock, wo sie am 8. November Morgens zwischen 7 und 8 Uhr im „Weißen Kreuz“ anlangten.


4.

Die Flüchtlinge fanden eine prächtige Aufnahme im Brockelmann’schen Hause. Sie wohnten zwei Treppen hoch in einem großen Salon nebst einem geräumigen Schlafzimmer. An ersteren stieß das Entréezimmer mit Balcon. Die Wohnung gewährte eine hübsche Aussicht auf den Bahnhof und das Warnowthal. Die liebenswürdigen Damen des Hauses, die Frau und die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_136.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)