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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Und im Entzücken über den majestätischen Anblick breitete er seine Arme gegen das Meer aus, als wollte er die große Natur an sein Herz drücken. Seine Brust hob sich und mit vollen Zügen schlürfte er die herrliche Seeluft, wie wenn dieser Augenblick ihn entschädigen sollte für die dumpfe Kerkerluft und den Staub des Spulrades, welche er so lange Zeit hatte athmen müssen.

Unser Aller bemächtigte sich eine tiefe Rührung und eine feierliche Stimmung, und wir gingen eine Zeit lang schweigend weiter. Darauf wandte ich mich an Carl Schurz und sagte zu ihm:

„Die braven Warnemünder thun Ihnen allerdings nichts zu Leide. Aber das Gerücht, daß zwei Fremde sich hier zu einer so ungewöhnlichen Zeit aufhalten, könnte doch nach Rostock dringen und die Aufmerksamkeit der dortigen Polizei um so mehr erregen, als voraussichtlich die steckbriefliche Verfolgung Kinkel’s nicht lange auf sich warten lassen wird. Es ist daher mein Plan, Sie vorerst nach Rostock zu schaffen, wo Sie so lange verborgen leben können, bis sich die Gelegenheit bietet, Sie mit einem Schiff nach England zu schaffen.“

„Wie rasch sind die dänischen Inseln zu erreichen?“ fragte Kinkel.

„In sechs Stunden können Sie mit einem Dampfschiffe von hier nach der Insel Falster kommen.“

„Können wir nicht in einem Boot hinüberfahren?“

„Allerdings. Im Sommer geschieht dies wohl dann und wann. Aber um diese Jahreszeit würde sich schwerlich ein Warnemünder dazu verstehen. Ueberdies ist die Landung in Falster gefährlich, weil man nicht wissen kann, ob die dänische Regierung sich wegen ihres Verhältnisses zum deutschen Bunde nicht verpflichtet hält, Sie auszuliesern.“

„Wie lange kann es dauern, daß ein Schiff zu unserer Disposition steht?“ fragte Kinkel.

„Das läßt sich noch nicht bestimmen. Einstweilen handelt es sich nur darum, Sie vorläufig in Sicherheit zu bringen.“

„Sollte es unter diesen Umständen nicht besser sein, wir führen nach Hamburg und suchten von dort nach England zu entkommen? Es werden dort alle Tage Schiffe nach England gehen.“

„Ganz richtig. Aber Sie würden dort der preußischen Polizei geradeswegs in die Arme laufen. Denn in Hamburg und Bremen wird man vorzugsweise vigilant sein, eben weil die Flucht von dort aus am leichtesten zu bewerkstelligen ist. Jedenfalls aber vermehrte sich die Gefahr für Sie um die durch Zurücklegung des Weges von hier nach Hamburg entstehende Chance. Mit der Eisenbahn, deren Bahnhöfe zu Hagenow und Hamburg bewacht sein werden, dürften Sie natürlich nicht reisen, und wenn Sie mit einem Fuhrwerk fahren, so könnten Ihnen die Gensd’armen in den Weg kommen.“

„O, vor diesen fürchten wir uns nicht,“ rief Schurz und griff nach seinen in der Seitentasche befindlichen Pistolen. „Wir sind hinlänglich darauf vorbereitet, es mit zweien oder dreien von ihnen aufzunehmen.“

„Ich zweifle nicht daran,“ versetzte ich, „daß Sie im Falle der Gefahr zum Aeußersten entschlossen sind und daß es Ihnen im Nothfalle nicht darauf ankommen würde, ob Mecklenburg ein paar Gensd’armen mehr oder weniger besäße. Aber Sie müssen eine solche Gefahr vermeiden. Eine den Gens’darmen gelieferte Schlacht würde Ihrer Flucht gar nicht förderlich sein, vielmehr die gesammte norddeutsche Polizei in Bewegung setzen und auf die richtige Spur leiten. Aber selbst wenn die Chancen für das Gelingen der Flucht über Hamburg weniger ungünstig wären, als sie es sind, so würden doch meine Freunde und ich aus unserer Obhut Sie nicht entlassen. Sie sind unser anvertrautes Gut, und wir sind dafür verantwortlich, Sie glücklich von hier fortzuschaffen. Vertrauen Sie daher uns ganz. Der Kaufmann Ernst Brockelmann in Rostock bietet Ihnen durch mich sein Haus als Asyl an. Als einer der bedeutendsten Schiffseigner wird er Rath für Ihre Weiterbeförderung zu schaffen wissen. Wir haben außerdem einen Plan miteinander besprochen, wonach man Ihre Spur hier verliert und Sie plötzlich wie Meteore wieder in Rostock auftauchen.“

Wir gelangten mittlerweile zum Wöhlertschen Gasthofe. Das Mittagsessen stand schon bereit. Ein erquickender Schlaf, dessen die Flüchtlinge sich in der verflossenen Nacht nach den furchtbaren Aufregungen der vorhergehenden Tage zu erfreuen gehabt hatten, und die gesunde frische Seeluft hatten sie sichtlich gestärkt. Meine beruhigenden Mittheilungen hoben ihre Stimmung, und so speisten wir denn in der heitersten Laune.

„Womit haben Sie sich denn gestern die Zeit vertrieben?“ fragte ich.

„Die Herren haben fortwährend geschlafen,“ erwiderte N. „Ich habe mich während der Zeit schrecklich gelangweilt, wiewohl ich mich über ihren langen Schlaf freute. Erst gegen Abend standen sie auf, und dann haben wir noch spät aufgesessen und geplaudert.“

„Ja,“ sagte Kinkel scherzend, indem er auf Schurz zeigte, „der „Kleine“ dort hat so fest geschlafen, daß er es nicht bemerkt haben würde, wenn auch zehn preußische Polizisten hereingetreten wären, um mich fortzuschleppen.“

„Da thun Sie ihm doch Unrecht,“ erwiderte N. „Ich habe Ihren Freund auf die Probe gestellt. Ich wollte sehen, wie weit seine Wachsamkeit ginge, und schlich mich ganz sachte nach dem Zimmer, in welchem Sie beide Ihren sechsstündigen Nachmittagsschlaf hielten. So leise wie ich konnte öffnete ich die Thür. Da sah ich Sie im festen Schlafe, aber Ihr Freund schlug sofort die Augen auf, richtete sich in die Höhe und ergriff seine oben auf seiner Bettdecke liegenden geladenen Pistolen. „Gut Freund“ rief ich und trat eilends meinen Rückzug an.“

„Der „Große“ scheint mir sehr undankbar zu sein,“ sagte Schurz zu Kinkel, „und wenn ich mir die Sache recht überlege, so thut es mir eigentlich leid, daß ich ihn nicht seinem Schicksale überlassen habe.“

„Du, nimm Dich in Acht, reize den Löwen nicht; ein Glück für Dich, daß Du mein Befreier bist!“ rief Kinkel mit komischem Pathos. „Nun aber,“ fügte er hinzu und blickte Schurz zärtlich an, „kann ich Dir nicht zürnen. Hast Du nicht Alles für mich eingesetzt? Komm, wir wollen Frieden machen, stoße mit mir an. Deine Gesundheit!“

Wir stießen die Gläser zusammen und leerten sie auf des Befreiers Wohl.

„Ja,“ sagte Kinkel ernst, „wenn Dir Deine wunderbare Flucht aus Rastadt nicht gelungen wäre, dann säße ich nicht hier, und wo Du jetzt wärest, das wissen die Götter.“

„Als ich mich unter der Rastadter Brücke verborgen hielt und die verteufelte Schildwache mit ihrem Bajonnetgewehr durch die Oeffnung in der Brücke stieß, um auf gut Glück zu erproben, ob ein Mensch oder eine Ratte darunter steckte, da fehlte nur eines Haares Breite, und ich wäre den elenden Tod des Aufspießens gestorben. Davor bin ich glücklicher Weise behütet und ich bin froh, daß ich hier sitzen und diesen ganz ausgezeichneten Seefisch essen kann. Ich denke, auch Dir schmeckt das Essen?“

„O ganz vortrefflich,“ erwiderte Kinkel. „Der Schlaf und die Seeluft haben mich so erquickt, daß ich einen wahren Wolfshunger habe.“

„Die Warnemünder Kost wird Ihnen auch besser gefallen als die Spandauer,“ bemerkte ich.

„Die Kost in Spandau hat mich gerade nicht verwöhnt. Man machte mit mir nicht mehr Umstände, als mit einem gewöhnlichen Zuchthaussträfling. Zum Lager hatte ich einen Strohsack. Die spitzen Strohhalme haben mich oftmals aus dem Schlaf geweckt und mir die Backen wund gerieben. Die Züchtlingskost war fast ungenießbar. Nur viermal im Jahre, nämlich an des Königs Geburtstage und am ersten Feiertage von Weihnachten, Ostern und Pfingsten, erhielten wir Fleisch. Aus Wasser und trockenem Brode bestand meine Hauptnahrung.“

„Bekamen Sie keine Butter?“ fragte ich.

„Ja, die habe ich mir in Spandau durch meine Arbeit zu verschaffen gewußt. Als ich noch in Naugard war, da hatte ich eine humanere Behandlung. Der Director des dortigen Zuchthauses, Schnuggel, gehörte freilich zu den Erzfrommen und empfing mich mit den salbungsvollen Worten: „„Mein Sohn, Du mußt Deinen Blick nun ganz von der Außenwelt abwenden und Dich einzig und allein mit Deinem Gott beschäftigen.““ Aber er wollte doch die ihm von Berlin ertheilten strengen Instructionen an mir nicht zur Ausführung bringen. Darum schickte man mich nach dem Spandauer Zuchthause, dessen Director Jeserich man die nöthige Energie zutraute, um meinen Trotz, wie man es nannte, zu brechen und meinen Geist zu beugen. Ich sollte das aufgegebene wöchentliche Pensum spulen. Wer sein Pensum nicht schafft, wird bestraft, zuerst mit Entziehung der warmen Kost und dann mit Prügeln. Ich that das Möglichste, um mein Pensum fertig zu bringen. Der Triumph sollte meinen Feinden nicht werden, daß sie draußen mit höllischer Schadenfreude

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