Seite:Die Gartenlaube (1863) 046.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)


sich als der Angelpunkt einer neuen Zeit erweisen. Napoleon hatte in Rußland sein „Bis hierher und nicht weiter“ gefunden, sein ungeheures Heer war auf dem unbegrenzten Raum dieses weiten Reichs dem Mangel, den Waffen des Feindes und den Schrecken des nordischen Winters erlegen, nur jammervolle Trümmer desselben vermochten sich über den Niemen zu retten. Bei alledem wäre der französische Kaiser jedoch wohl im Stande gewesen, diesen Fehlschlag wieder einzubringen und, gestützt auf die unerschöpflichen Hülfsquellen der ihm unterworfenen oder verbündeten Staaten, im nächsten Jahre mit einem neuen, vielleicht noch stärkeren Heere abermals gegen Rußland aufzutreten, wofern nicht ein sich dieser großen Katastrophe anschließendes und aus derselben entwickelndes Ereigniß plötzlich und unverhofft die Geschicke der Welt in neue Bahnen gelenkt hätte.

Das kleine, der großen französischen Armee beigegebene preußische Corps hatte einen Theil des von dem französischen Marschall Macdonald befehligten und gegen Riga operirenden französischen Corps gebildet. Bei dem Vormarsch der französischen Hauptmacht gegen Moskau blieb dies Letztere somit gleichsam als deren am weitesten nach rückwärts und links vorgeschobener Seitenposten zu erachten, und es folgte daraus, daß es auch am spätesten erst von dem nachherigen Rückzuge jener mit ergriffen werden konnte. Alles hing für die Franzosen davon ab, die Russen wenigstens am Niemen aufzuhalten, und das noch in ziemlich gutem Zustande befindliche preußische Corps sollte hierzu die Rückendeckung derselben übernehmen. Der Führer dieses indeß, der General York, statt die ihm zugefallene Aufgabe zu erfüllen, trat eigenmächtig mit dem verfolgenden Feinde in Unterhandlung und schloß mit demselben jene weltgeschichtliche Convention von Tauroggen, wodurch die preußische Abtheilung sich zwar noch nicht völlig den Russen anschloß, aber doch, unter dem Vorbehalt der späteren Entscheidung ihres Königs über ihre Bestimmung, ihre Sache von der der Franzosen trennte. Die Folge dieses Schritts äußerte sich zunächst gleich darin, daß die Letzteren vor den nunmehr ungehindert über die preußische Grenze vordringenden Russen bis hinter die Weichsel zurückweichen mußten und daß ihnen so gleichsam im ersten Anlauf die ganze Provinz Preußen verloren ging. Eine weitere und noch viel bedeutsamere Folge war jedoch noch, daß mit der Kunde von jener That plötzlich, gleich einem elektrischen Schlag, die ganze preußische und deutsche Nation der Gedanke durchzuckte: jetzt oder nie sei der Moment der Befreiung von den fremden Drängern erschienen. Es bedurfte nur noch des zündenden Funkens, um die in allen Herzen aufzuckende Hoffnung und Erwartung zur lichten Flamme der Begeisterung zusammenschlagen zu machen.

Ganz anders ward freilich die Kunde jenes Ereignisses in den Berliner Hofkreisen aufgenommen. Man glaubte sich dort in der ersten Bestürzung nur durch verdoppelte Unterwürfigkeit gegen Napoleon retten zu können. York ward seines Commandos entsetzt und vor ein Kriegsgericht verwiesen. Allmählich brach sich jedoch auch hier dem gegenüber die Ueberzeugung der Verständigen und Einsichtsvollen Bahn, daß alle die gemachten Anerbietungen den französischen Kaiser nicht versöhnen würden, und daß der Kampf um die Existenz Preußens nunmehr unbedingt gewagt werden müsse. Der König ging nach Breslau, Unterhandlungen mit Rußland wurden eingeleitet.

An eine rasche Förderung der Sache durfte bei alledem noch immer nicht gedacht werden, Zweifel und Bedenken gegen eine derartige Entscheidung machten sich vielmehr fortgesetzt von Neuem geltend. Auch ist auf die besondere Schwierigkeit der Lage schon gleich zu Eingang Bezug genommen worden. Soviel Napoleon in Rußland auch verloren haben mochte, so blieben seine Hülfsmittel doch groß genug, um binnen Kurzem die erlittenen Verluste mehr als zu ersetzen, andrerseits aber durfte jedenfalls mit Bestimmtheit angenommen werden, daß auch die Russen aus dem furchtbaren Streit des vorigen Jahres auf’s Aeußerste geschwächt hervorgegangen sein würden. Auf Oesterreich konnte, wenigstens für’s Erste, schwerlich gezählt werden, die gesammten Fürsten des übrigen Deutschlands dagegen waren durch den Rheinbund an Frankreich gefesselt. Polen, im Rücken des preußischen Staats, stand ebenfalls auf französischer Seite. Beinahe das ganze Land und sieben von dessen Hauptfestungen befanden sich überdies augenblicklich noch vom Feinde besetzt. Die Theilnahme der eignen Nation an dem Befreiungswerke und deren Leistungsfähigkeit ließen sich endlich aus Mangel an jedem Maßstabe dafür noch gar nicht ermessen. Der ganz unbestimmt gehaltene Aufruf der Freiwilligen vom 3. Februar 1813 war gleichsam ein erster Fühler, wie viel man von dieser Richtung etwa erwarten durfte.

Früher hatte man jedoch schon in Königsberg seinen Entschluß genommen. York begriff, daß er nicht auf halbem Wege stehen bleiben konnte. Im Anschluß an die russischen Truppen war er mit seinem Corps ebenfalls in Preußen eingerückt. Doch die vielleicht gehoffte Erhebung des Volkes blieb aus; es liegt, oder es lag damals wenigstens doch noch in diesem norddeutschen Stamme ein zu soldatisches Element, als daß die Angehörigen desselben ohne höhere Autorisation dazu auch auf den gehaßtesten Feind hätten losschlagen sollen. Noch stand York, mit der ausschließlichen Verantwortlichkeit für seine That belastet, allein; er wußte bereits, was gegen ihn in Berlin beschlossen worden war, und wofern er sich nicht rettungslos verloren geben wollte, blieb ihm kein Ausweg weiter, als durch einen zweiten großen Schritt das ganze Land zur Theilnahme an seiner Handlung zu bestimmen und so die unschlüssige Regierung halb mit Gewalt zu einem gleicherweise entschlossenen Vorgehen gegen Frankreich mit sich fortzureißen.

Es bleibt indeß zweifelhaft, ob York seinerseits so leicht dieser zwingenden Nothwendigkeit des Handelns nachgegeben haben würde. Er ist eine jener dunklen Erscheinungen der Geschichte. Verschlossen, wortkarg, abstoßend, ein abgesagter Feind aller irgendwie idealen Pläne und Bestrebungen, galt er während der Periode von 1808 bis 1812 zwar für einen eben so fähigen und braven Officier, als glühenden Patrioten, aber andrerseits doch auch für einen der unbedingtesten Anhänger der nur eine Varietät des Junkerthums bildenden exclusiven Militärpartei. Es muß noch heute fast unerklärlich erachtet werden, daß gerade ein solcher Mann bei seinen fest normirten Grundsätzen sich, soweit erkennbar, allein aus sich selbst heraus zu einer so außergewöhnlichen Handlungsweise wie dort zu Tauroggen aufschwingen konnte.

Sein scharfer Verstand und seine rücksichtslose Energie mußten ihn von hierab freilich weiter führen, und überdies war ihm auch bereits ein Anderer bestimmend, anregend, fördernd zur Seite getreten.

Dieser war Stein, der in Begleitung der russischen Heere den deutschen Boden wieder betreten und sofort das Befreiungswerk in die Hand genommen hatte. Mit einer fast unumschränkten Vollmacht des Kaisers Alexander von Rußland erschien derselbe nach einer vorherigen Rücksprache mit dem einflußreichen und ihm geistesverwandten Regierungspräsidenten von Litthauen, von Schön, zu Insterburg, am 21. Januar in Königsberg.

Der Plan des großen Mannes zielte auf nichts Geringeres, als in einer Landwehr und dem Landsturm die gesammte Wehrkraft der Nation zum Kampfe aufzubieten. Der Entwurf zur Errichtung einer solchen war von Scharnhorst bereits 1808 dem Könige Friedrich Wilhelm III. untergebreitet, allein nach einer anfänglich sehr günstigen Aufnahme von Seiten dieses Monarchen später doch als bis auf Weiteres unausführbar mit so manchen anderen Reformprojecten wieder zur Seite gelegt worden. Stein hatte diesen damals unter seinen Augen und mit seiner Zustimmung entstandenen Entwurf jetzt wieder aufgenommen, und die 1809 zum ersten Mal versammelt gewesene und seitdem in einem Ausschuß noch fortbestehende Ständeversammlung der Provinz sollte demselben die gesetzliche Sanction ertheilen.

York ging auf den letzten oder eigentlich den ersten Theil dieses Vorhabens, die Berufung der Ständeversammlung zur Erwägung der Mittel des Widerstandes gegen den Feind, freudigst ein, von der Errichtung einer Landwehr zu diesem Zweck war er dagegen, um seiner streng geschulten militärischen Richtung willen, immer ein principieller Gegner gewesen. Und dennoch bekleidete der General seit Anfang 1812 die ihm Ausgang desselben Jahres nochmals bestätigte Stellung als Militärgouverneur der Provinz Preußen, und auf seine Entscheidung hierüber mußte deshalb der Gang der Verhandlungen jedenfalls zuletzt zurückführen. Auch nach anderen Richtungen gab es noch unendliche Weitläufigkeiten und Schwierigkeiten zu beseitigen. Namentlich veranlaßte die zeitige Stellung Stein’s in russischen Diensten und die demselben vom Kaiser Alexander I. ertheilte Vollmacht ein schwer zu bewältigendes Hinderniß, da die patriotischen preußischen Männer um jeden Preis auch nur den entfernten Anschein, bei ihrem Entschluß von Rußland beeinflußt zu sein, zu vermeiden wünschten.

(Schluß folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_046.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)